Inhalte des ballesterer (http://ballesterer.at) #151 (Mai 2020) – Seit 7. Mai im Zeitschriftenhandel und digital im Austria-Kiosk (https://www.kiosk.at/ballesterer)

SCHWERPUNKT: Buenos Aires

STADT DER FUSSBALLWUNDER

So viele Klubs und so viel Leidenschaft wie in Buenos Aires gibt es nirgendwo sonst

HÖHERE MATHEMATIK

Das Ligenformat ist im ständigen Reformprozess

SEELENFORSCHER

Hardy Grüne hat die Klubs von Buenos Aires erkundet

TAKTIK TOTAL

Die Maschine von River Plate

Außerdem im neuen ballesterer

FUSSBALL IN DER CORONAKRISE

Berichte aus Österreich, Deutschland und Italien

LANGZEITSCHÄDEN

Ein Anstoß zu den Geisterspielen

GUT GESICHERT

Die Fürther Fanszene zieht in einen Bunker

KLUBMEISTER DES KONTINENTS

Zahlen, Helden & Rekorde der Copa Libertadores

UNTER DER BRÜCKE

Impressionen aus Bratislava

DER SOUND VON NEAPEL

Netflix bringt "Ultras" ins Wohnzimmer

ZWISCHEN ARSENAL UND ARMEEKLUB

Ein Besuch in Ruanda

LEGIONÄR UND GENTLEMAN

John Carey war der erste irische Star

BALLESTERER BRENNT

Zwischenbilanz mit tausend Dank

GROUNDHOPPING

Matchberichte aus Deutschland, England, Italien und Mexiko

Javier Pinola: "In Argentinien konzentriert sich alles auf Buenos Aires. Etwa die Hälfte der Erstligisten kommt von hier."

Foto: APA/AFP/OSCAR DEL POZO

Javier Pinola wohnt in einer noblen Gegend im Norden des Großraums Buenos Aires. Sicherheitsleute stehen hier an jeder Straßenecke. Sein Haus ist mit einem elektrischen Zaun umgeben, dahinter erstreckt sich ein großer Garten mit Pool und Griller.

Pinola kommt dem ballesterer mit der ersten Frage des Interviews zuvor: "Wie geht es ‚Pogerl‘ und ‚Burgi‘?" In Nürnberg hat er mit Emanuel Pogatetz und Guido Burgstaller zusammengespielt, und seine Nürnberger Vergangenheit ist auch in Buenos Aires präsent: Pinolas Matetasse schmückt sowohl das River- als auch das FCN-Logo.

ballesterer: In Buenos Aires gibt es etwa 80 Profi- und Halbprofivereine, deutlich mehr als irgendwo sonst. Spielen Sie in der Fußballhauptstadt der Welt?

Javier Pinola: Ich denke schon. In Argentinien konzentriert sich alles auf Buenos Aires. Etwa die Hälfte der Erstligisten kommt von hier. Das ist super, aber auch schade. In Europa hat jede größere Stadt einen guten Verein. Dadurch lernt man bei Auswärtsreisen das ganze Land kennen.

ballesterer: Mitte Jänner ist kurzfristig ein ganzer Spieltag abgesagt worden. Passiert so etwas häufiger?

Pinola: Ja, das ist typisch argentinisch und schon immer so gewesen. Ich bin Argentinier und kenne das, aber wenn man zuvor viele Jahre in Deutschland gespielt hat, wo so etwas nicht passiert, ist es komisch. Für uns Spieler und vor allem den Trainerstab erschwert es die Planungen ungemein.

ballesterer: Wie unterscheidet sich das Leben als Profi in Deutschland und in Argentinien noch?

Pinola: Die Stimmung in den argentinischen Stadien kann richtig schön sein, weil die Leute hier verrückt nach Fußball sind. Aber sie haben weniger Respekt vor den Spielern, im Stadion und außerhalb. Wenn ich in Deutschland in einem Restaurant sitze und ein Fan ein Foto oder Autogramm will, wartet er, bis ich fertiggegessen habe. In Argentinien kommen die Leute sofort auf dich zu. In den Stadien wird hier auch mehr geschimpft, und zwar mit richtig schlimmen Worten.

ballesterer: In Deutschland werden die Fanszenen von den Ultras bestimmt, in Argentinien von den Barras Bravas. Was sind die Unterschiede?

Pinola: Die Ultras in Deutschland lieben ihren Verein einfach nur und weil sie mehr Respekt zeigen, sind sie viel näher an den Spielern dran. Ich habe in Nürnberg nie Probleme mit den Ultras gehabt, mit ein paar war ich sogar in Kontakt. Erst kürzlich habe ich mit einem geschrieben. Von Rivers Barras Bravas kenne ich keinen einzigen. Vielen geht es auch nur um das Business, beispielsweise über Ticketweiterverkäufe Geld zu verdienen. Da frage ich mich: Wo ist die Leidenschaft? Außerdem sind sie gewaltbereiter. Das Problem hat sich etwas gebessert, seit in den Stadien keine Auswärtsfans mehr zugelassen sind.

ballesterer: War das die richtige Entscheidung?

Pinola: Der Fußball hat dadurch etwas verloren, weil zu einem richtigen Fußballfest beide Fanlager gehören. Die Stimmung ist deswegen anders. Aber ich finde es trotzdem gut, weil ich mich bei den Spielen so mehr auf den Fußball konzentrieren kann. Ich muss mir nicht mehr wie früher Sorgen machen, ob meiner Familie auf der Tribüne etwas passiert.

ballesterer: Sind Sie selbst schon mit Gewalt konfrontiert worden?

Pinola: Als wir 2017 zu einem Copa-Libertadores-Auswärtsspiel nach Lanus im Süden von Buenos Aires gefahren sind, hat jemand einen Stein auf unseren Mannschaftsbus geworfen. Die Scheibe ist zerbrochen, aber zum Glück hat sich keiner verletzt.

ballesterer: Ähnliches ist vor dem Copa-Libertadores-Finale 2018 zwischen River und den Boca Juniors passiert. Weil sich einige Boca-Spieler verletzt haben, ist das Spiel verschoben worden. Was sind Ihre Erinnerungen daran?

Pinola: Wir sind ganz normal mit dem Bus zum Stadion gefahren und in der Kabine gesessen, als die Nachricht gekommen ist. Wir haben alle an unsere Familien gedacht, die schon im Stadion waren. Zum Glück ist ihnen nichts passiert. Unser Trainer ist in die Boca-Kabine gegangen und hat sich mit ihnen ausgetauscht. Einige Mitspieler von mir haben auch mit Boca-Spielern Nachrichten geschrieben. Als wir die Details erfahren haben, war klar, dass wir nicht spielen werden. Wir wollten keinen Vorteil, sondern ein faires Finale.

ballesterer: Das Spiel ist zwei Wochen später in Madrid ausgetragen worden. Haben Sie die Verlegung nachvollziehen können?

Pinola: Nein. Die Copa Libertadores ist ein südamerikanischer Wettbewerb. Das Finale sollte in Südamerika ausgetragen werden.

ballesterer: War es schwierig, sich neu zu konzentrieren?

Pinola: Ja. Das Match ist nach dem Hinspiel zwei Wochen lang in meinem Kopf rauf- und runtergelaufen und als es endlich so weit war, haben wir plötzlich nicht spielen dürfen. Es war schwer, das zu verarbeiten. Im Fernsehen sind dann auch noch 20 Stunden pro Tag Berichte gelaufen. Ich habe versucht, gar nicht mehr einzuschalten. Wenn ich zu viel geschaut hätte, wäre ich verrückt geworden.

ballesterer: Nach dem 2:2 im Hinspiel haben Sie mit River das Rückspiel 3:1 gewonnen. Wie waren die Feierlichkeiten?

Pinola: Leider haben wir zunächst nicht mit unseren Fans und Familien feiern können, weil wir direkt von Madrid zur Klub-WM nach Abu Dhabi geflogen sind. Erst zwei Wochen später, am 23. Dezember, waren wir zurück in Buenos Aires. Der Weg vom Flughafen zum Stadion hat statt 40 Minuten über zwei Stunden gedauert. Das Stadion war offen und komplett voll. Dort haben wir mit den Fans gefeiert und nachher mit unseren Familien. Da ist mein größter Traum wahrgeworden.

ballesterer: Für River war es der vierte Sieg in der Copa Libertadores. Beim zweiten 1996 waren Sie 13 Jahre alt und mit Ihrem Vater im Stadion, wie Sie einmal erzählt haben.

Pinola: Ich kann mich an alles noch ganz genau erinnern. Mein Vater hat mich von der Schule abgeholt, dann sind wir zum Stadion gefahren. Zuerst waren wir in einem Restaurant in der Nähe, zwei Stunden vor Anpfiff sind wir hineingegangen. Was dann passiert ist, war der Wahnsinn. Das wird mir ewig in Erinnerung bleiben und mich mit meinem Vater verbinden.

ballesterer: Gibt es in Ihrer Familie nur River-Fans?

Pinola: Meine Schwester interessiert sich nicht für Fußball, und mein Opa unterstützt Independiente. Alle anderen sind für River. Daher ist für mich schon mit dem Wechsel ein Traum in Erfüllung gegangen. Ich werde immer River-Fan sein.

ballesterer: Sie kommen aus dem Norden von Buenos Aires, unweit des Estadio Monumental von River. Boca ist im Süden beheimatet. Gibt es eine geografische Fanverteilung?

Pinola: Nein, es gibt in der ganzen Stadt Fans von beiden Vereinen. Wenn wir vor einem Superclasico durch La Boca fahren, hängen nur wenige Meter von der Bombonera entfernt auch River-Fahnen an den Häusern. Historisch gesehen sind die River-Fans eher aus der Oberschicht und die Boca-Fans aus der Arbeiterklasse, aber das spielt heute keine Rolle mehr.

ballesterer: Sie sind mit 19 Jahren erstmals nach Europa gewechselt, haben sich bei Atletico Madrid aber nicht durchgesetzt. Anschließend sind Sie nach Argentinien zum Racing Club zurückgekehrt, ehe der 1. FC Nürnberg Sie verpflichtet hat. Wie haben Sie Ihre Zeit in Deutschland in Erinnerung?

Pinola: Ich weiß noch genau, wie ich im Flugzeug gesessen bin und mir gesagt habe: "Das ist meine letzte Chance, die muss ich nutzen." Dass ich zehn Jahre in Nürnberg bleiben sollte, hätte ich mir aber nie vorstellen können. Ich bin ewig dankbar, wie mich die Leute dort aufgenommen haben. Nürnberg ist meine zweite Heimat geworden, und ich werde nach meiner Karriere auf jeden Fall zurückkehren. Wenn ich nicht bei River spielen würde, wäre ich jetzt schon zurück in Nürnberg. Ich übe auch jeden Tag Deutsch, damit ich es nicht verlerne. (Nino Duit, 8.5.2020)