Im KZ Mauthausen und in den 49 Nebenlagern waren rund 200.000 Personen interniert, etwa 90.000 starben. Am 5. Mai 1945 wurde das Lager befreit. Die Feier findet heuer virtuell statt. Bundespräsident Alexander Van der Bellen gedachte der Opfer vor Ort.

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Eigentlich wollte Erika Kosnar ihre Ehrenrede am Fest der Freude damit beginnen, welche Genugtuung es für sie ist, 75 Jahre nach der Kapitulation der deutschen Wehrmacht auf dem Wiener Heldenplatz zu stehen. "Dort, wo 1938 der Hitler gestanden ist. Nur sind die alle tot, und ich habe es überlebt", sagt Kosnar am Telefon. Ihre Rede für den 8. Mai musste sie ändern, wegen der Coronavirus-Krise wird die Feier der Befreiung nur virtuell und im Fernsehen übertragen.

Bewegte Kindheit

Kosnar wird 1932 als Kind einer Arbeiterfamilie in Wien geboren. Ihre Mutter, eine Katholikin, konvertiert 1931 zum jüdischen Glauben des Vaters, damit das Mädchen "nicht zwischen Katholizismus und Judentum hin- und herg’schupft wird". Später muss die Mutter den Übertritt vertuschen. Bis zum März 1938 habe Kosnar im Hof mit allen anderen Kindern gespielt, erinnert sie sich. "Danach haben sie mir nachgeschrien: ‚Jud, Jud, spuck in Hut‘." Im selben Jahr wird sie eingeschult und besucht drei Jahre lang den normalen Unterricht. In der vierten Klasse erhält sie einen neuen Klassenvorstand – eine "feste Nazianhängerin", sagt Kosnar: "Nachdem wir den Führer begrüßt hatten, musste ich meine Schulsachen packen und mir wurde gesagt, dass ich es nicht würdig sei, mit arischen Kindern in die Schule zu gehen." Sie wechselt in eine sogenannte "Mischlingsschule". Statt Lehrern unterrichten dort Geschäftsleute, deren Läden "arisiert" wurden. Auch die Lehrmittel fehlen. Als den Kindern das Thermometer erklärt wurde, habe ein Mitschüler eines von daheim mitgebracht, erinnert sich Kosnar. 14 Tage danach sei er nicht mehr in die Schule gekommen. Sie habe ihn nie wieder gesehen. "Was aus ihm geworden ist, überlasse ich der Fantasie der Zuhörenden, das ist nicht angenehm", sagt sie.

Lange Zeit hatte Kosnar nicht über ihre Kindheit während des Krieges gesprochen. Seit 2008 erzählt sie Schülern von ihren Erfahrungen. "Balsam auf der Seele" seien diese Termine. Eine Frage, die immer aufkomme, sei jene nach dem Kriegsende. "Ich bin im Hof gestanden und die noch verbliebenen Glocken haben geläutet", antwortet sie. Seit im März Schulen geschlossen wurden, sind diese Treffen ausgefallen.

Befreiungsfeiern abgesagt

Abgesagt wurden heuer auch die offiziellen Befreiungsfeiern im ehemaligen Konzentrationslager Mauthausen. Gut 10.000 Menschen treffen sich dort normalerweise Anfang Mai, um gemeinsam mit Überlebenden im Sinne einer aktiven Gedenk- und Erinnerungsarbeit aus einem "Niemals vergessen" ein "Nie wieder" zu machen.

Es bleibt die Frage, ob virtuelles Gedenken tatsächlich möglich ist und die Vorstellungskraft reicht. Für Barbara Glück, Direktorin der Gedenkstätte Mauthausen, gibt es zwei Faktoren: "Es ist leider eine Gewissheit, dass die Generation der Zeitzeugen uns in absehbarer Zeit nicht mehr so unterstützen kann, wie es noch vor einigen Jahren möglich war. Für die tägliche Vermittlungsarbeit an der Gedenkstätte stehen heute keine Überlebenden mehr zur Verfügung. Um dies auszugleichen, greifen wir auch auf digitale Hilfsmittel zurück." So habe man bereits Anfang der 2000er in Kooperation mit anderen Institutionen ein umfassendes internationales Interviewprojekt gestartet, in dem rund 900 Überlebende befragt worden seien. "Andererseits stellen wir uns auch laufend die Frage, wie wir junge Menschen erreichen können. Wir haben es uns über Jahrzehnte zu einfach gemacht, indem wir uns zurückgelehnt haben und auf jene gewartet haben, die zu uns kommen." So erreiche man aber auch nur jene, die "sich von sich aus schon mit dem Thema auseinandergesetzt haben".

Drei-Stufen-Modell

Seit ein paar Jahren sei die Gedenkstätte aber auf Facebook und auf Instagram: "Und da haben wir gemerkt, dass wir viel mehr Leute ansprechen können. Jugendliche, Pädagogen, die vielleicht Hemmungen gehabt haben, die Gedenkstätte zu besuchen." Prinzipiell sieht Glück ein Drei-Stufen-Modell: "Zuerst die Vorbereitung, die natürlich virtuell passieren kann. Dann der unverzichtbare eigentliche Besuch der Gedenkstätte, dann eine Nachbearbeitung."

Mit Beginn der Covid-19-Krise und der vorübergehenden Schließung der Gedenkstätte habe man die Vermittlungsarbeit komplett ins Netz verlegt. Glück: "Unsere Vermittler produzieren Videos, die sich speziell an Schüler richten. Mit Arbeitsmaterialien abgestimmt auf Unter- und Oberstufe. Jeden Tag ein neues Thema."

Für Barbara Glück ist aber eines klar: "Es kann kein Entweder-oder geben. Die virtuelle Auseinandersetzung kann nie ein Ersatz sein für den Besuch des historischen Orts." Auf der Verknüpfung mit dem Ort baue die Vermittlungsidee auf: "Wenn ich will, dass eine bleibende Wirkung entsteht und die Menschen sich etwas merken und mitnehmen, ist eine Verknüpfung des Themas mit dem Ort sehr wichtig. Die Auseinandersetzung am Ort des Geschehens kann man nicht einfach ersetzen."

Virtuelle Grenzen

Der Ausfall der heurigen Gedenkfeier sei insbesondere für Überlebende schwierig: "Es ist bitter. Denn den persönlichen Kontakt, eine Umarmung, den lebendigen Moment in unserer Gedenkarbeit kannst du virtuell nicht ersetzen. Die Befreiung zu feiern heißt nämlich vor allem: Wir feiern hier gemeinsam das Leben." (Oona Kroisleitner, Markus Rohrhofer, 8.5. 2020)