Erika Kosnar hätte auf dem Heldenplatz in Wien zum Fest der Freude sprechen sollen.

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Erika Kosnar würde sich eigentlich gerne persönlich treffen. So macht sie das immer, und immer gibt es Kaffee und Kuchen. Dass das wegen der Coronavirus-Krise gerade nicht möglich ist, schlägt ein wenig auf die Stimmung. Seit 2008 geht sie als Zeitzeugin in Schulklassen und erzählt Schülern aus ihrem Leben. "Balsam auf der Seele" seien die Gespräche mit den Schülern. Ihre Aufzeichnungen und Dokumente, die sie den Jugendlichen, aber auch Journalisten, Historikern oder anderen Interessierten zeigt, hätte sie alle griffbereit.

"Die Schwester meines Vaters war eine Freundin meiner Mutter, so haben sich die beiden kennengelernt", beginnt Kosnar am Telefon zu erzählen – und so beginnt ihre Geschichte. Die Mutter ist Katholikin, der Vater Jude. 1929 heiraten die Eltern, zwei Jahre später konvertiert die Mutter zum jüdischen Glauben. "Meine Eltern wollten nicht, dass ihr Kind zwischen zwei Glaubensrichtungen hin und her g'schupft wird", sagt Kosnar. 1932 bekommen die beiden ein Kind – Erika. Und nur wenige Jahre später muss die Mutter ihren Übertritt wieder vertuschen. "Auf der Rückseite ihres Taufscheins war der Vermerk des Übertritts. Sie hat aus Mehl und Wasser einen Kleister gemacht, und auf den Taufschein, den sie vorher auf die Herdplatte gelegt hat, dass er braun und brüchig geworden ist, hat sie ein Fleckerl Stoff geklebt und das kaschiert", erzählt Kosnar. "Wir haben das als Re-Arisierung bezeichnet."

Schulbesuch im Krieg

Bis zum März 1938 habe sie im Hof des Simmeringer Wohnhauses mit allen anderen Kindern gespielt, erinnert sie sich. "Danach haben sie mir nachgeschrien: 'Jud, Jud, spuck in Hut. Sag der Mutter, das ist gut.'" Im selben Jahr wird sie eingeschult. Drei Jahre lang besucht die wissbegierige Schülerin den normalen Unterricht. In der vierten Klasse erhält sie einen neuen Klassenvorstand. "Wir Schüler mussten aufstehen, und nachdem wir den Führer begrüßt hatten, musste ich meine Schulsachen packen, und mir wurde gesagt, dass ich nicht würdig sei, mit arischen Kindern in die Schule zu gehen." Schrecklich sei das gewesen, erinnert sie sich noch heute.

Sie wechselt in eine sogenannte "Mischlingsschule". Statt Lehrern unterrichten in der neuen Klasse Geschäftsleute, deren Läden "arisiert" wurden. "Wir hatten auch keine Lehrmittel." Die Vortragenden tun ihr Bestes, um den Kindern doch etwas beizubringen. Als den Kindern das Thermometer erklärt wird, habe ein Mitschüler eines von daheim mitgebracht, erinnert sich Kosnar. 14 Tage danach sei er nicht mehr in die Schule gekommen. Sie habe ihn nie wiedergesehen. "Was aus ihm geworden ist, überlasse ich der Fantasie der Zuhörenden, das ist nicht angenehm", sagt sie.

Hamstern am Land

Die Eltern tun alles, um ihre Tochter vor den Nazis zu schützen. Doch im Krieg sind die Nahrungsmittel rar. Während die anderen Kinder Kuhmilch bekommen, ist für Kosnar nur Leichtmilch vorgesehen, erinnert diese sich an ihre Lebensmittelrationen. Im Bezirk gibt es nur einen Fleischer, der die Familie versorgt. Das Fleisch, das sie dort erhalten, ist "ungenießbar, das würde man nicht einmal den Hunden vorsetzen".

Dank des bearbeiteten Taufscheins der Mutter hat diese einen Pass. Für zusätzliches Essen fährt die Mutter damit und manchmal mit Erika Kosnar raus aus der Stadt und ins Waldviertel, um bei Bauern zu "hamstern". Die Mutter tauscht ihre Arbeitskraft oder irgendwas, das die Familie übrig hat, gegen Essen. Kosnar beschreibt die Ausflüge aufs Land wie eine Auszeit vom schrecklichen Alltag im von Antisemitismus geprägten Wien der Kriegszeit. "Die Buben haben mich mitgenommen zu den Dingen, wo die Mädchen eigentlich nicht dabei sein durften", sagt sie verschmitzt. Kirschen stehlen ist eine dieser Aktivitäten. Einmal sagt ihr der Bauer, sie müsse doch nur fragen. Noch heute antwortet Kosnar darauf, wenn man die Kirschen selber vom Baum holt, ohne zu bitten, dann "schmecken sie am besten".

Stern und Hausdurchsuchung

Mit neun Jahren muss sich Kosnar den gelben Stern abholen. Zudem wird ihr der Zweitname Sara aufgezwungen. Die Familie gerät während der Kriegsjahre immer wieder in brenzlige Situationen. "Was macht das Kind, wenn's bei der Mutter nicht schmeckt? Sie geht zur Großmutter", beginnt Kosnar zu erzählen. In ihrem Fall lebte die Großmutter nur ein Stockwerk unter der Familie. Während das Mädchen bei der Oma isst, kommt ein SS-Mann in die Wohnung zur Mutter und durchsucht diese. Kosnar kennt den Mann, er wohnt in der Nähe der Familie. Das Mädchen läuft die Stufen hinauf und beobachtet das Treiben gemeinsam mit der Großmutter. "Bei uns gab es nicht viel zu holen. Wir haben in einer 26 Quadratmeter großen Wohnung gelebt und nicht in einem Palais." Die Mutter muss ihren Schmuck auf dem Tisch ausbreiten. "In jüdischen Familien schenkt der Mann seiner Ehefrau zu irgendwelchen Anlässen Schmuck", sagt Kosnar. "Weil das das leichteste Fluchtgepäck ist." An einem der Armbänder hängt ein Davidstern. Das Kettchen nimmt der Mann mit sich. Den Stern lässt er der Familie zurück.

An dutzende Szenen wie diese kann Kosnar sich noch heute genau erinnern. Sie erzählt von Verwandten des Vaters, die "U-Boote" waren, von Begegnungen mit der Gestapo und davon, wie die Nachbarn sie vernadert haben.

Eine Frage, die aber immer aufkomme, wenn sie in den Klassen stehe, sei jene nach dem Kriegsende. "Ich bin im Hof gestanden, und die noch verbliebenen Glocken haben geläutet", antwortet sie dann. Eine Frau ruft in dem Moment "Frieden" aus dem Fenster. Nach dem Krieg heiratet Kosnar und bekommt Kinder. Ihren Lebensunterhalt verdient sie als Sekretärin.

Langes Schweigen

Lange hatte Kosnar nicht über ihre Erlebnisse im Krieg und die Kindheit unter dem Naziterror gesprochen. Heute ist sie in Pension und berichtet, wo sie nur kann, über das, was sie im Krieg erlebt hat. Warum? Um den nächsten Generationen etwas mitzugeben. Damit so etwas nicht mehr passiert. "Ich drücke aber nicht auf die Tränendrüse. Ich will kein Mitleid."

Vom "Nationalfonds der Republik Österreich für die Opfer des Nationalsozialismus" erhielt Kosnar eine Entschädigung für das Erlebte. Aber ob man dieses Grauen entschädigen kann? "Eine gestohlene Kindheit kann niemand wiedergutmachen. Aber so dumm, dass ich mir das nicht abhole, war ich auch nicht", sagt sie. (Oona Kroisleitner, 8.5.2020)