Wie misst sich die verpasste Zeit zwischen Mutter und Tochter, in der geschwiegen wurde oder gestritten oder aneinander vorbeigelebt, in der man sich enttäuschte, gegenseitig und widersinnig?

Foto: APA / Barbara Gindl

"Die Minuten dehnen sich, und doch erscheinen die vergehenden Stunden kurz, eine Zeit, die nirgends beginnt und nirgends endet." Ist Zeit noch Zeit, wenn ein Leben das physische Ende erreicht? Ist Zeit noch eine Kategorie, die zählt, wenn der Sand des Lebens verronnen ist?

Wie misst sich die verpasste Zeit zwischen Mutter und Tochter, in der geschwiegen wurde oder gestritten oder aneinander vorbeigelebt, in der man sich enttäuschte, gegenseitig und widersinnig? Und ergibt all dies am Ende tatsächlich Versöhnung? Zwei Bücher über Mütter werfen diese Fragen auf, Fragen nach verabsäumten Fragen und verschatteten Leben, nach dem Verhältnis von Müttern und Töchtern, eigenen und fremden Träumen, Verharren und Verschwinden, Erinnern und Fortgleiten.

Melitta Breznik, aus dem steirischen Kapfenberg stammend, Ärztin und Psychiaterin, die seit langem in der Schweiz lebt und arbeitet, ist eine langsame Prosaschreiberin. Zwischen ihren ersten drei Büchern, dem Debüt Nachtdienst von 1995, dem Folgebuch Figuren und der Erzählung Das Umstellformat lagen jeweils drei Jahre.

Melitta Breznik, "Mutter. Chronik eines Abschieds". 18,50 Euro / 160 Seiten. Luchterhand, München 2020
Cover: Luchterhand

Sieben Jahre später erschien Nordlicht, vier Jahre darauf Der Sommer hat lange auf sich warten lassen und nun, wieder sieben Jahre später, Mutter. Gerade einmal sechs, nicht übermäßig umfangreiche Bücher in 25 Jahren, ungewöhnlich genug, ebenso, dass in heutigen unruhigen Buch-Zeiten ihr derselbe Verlag über ein Vierteljahrhundert hinweg die Treue hielt, auch als das Haus Luchterhand im großen Random-House-Verlagskonglomerat aufging.

Kein Buch Brezniks, das nicht autobiografisch unterfüttert ist, ob nun die Suche nach ihrer in den frühen 1940er-Jahren in der Psychiatrie umgekommenen Großmutter, die Recherche über die Kriegsjahre ihres Vaters oder die Erzählung über eine Medizinerin, den Alltag im Spital und den Übergang von Leben zum Tod. Auch und erst recht die Chronik eines Abschieds ist vom eigenen Leben grundiert, noch stärker von dem ihrer Mutter.

Muttersterben

Kurz vor deren 91. Geburtstag – Tochter Melitta hat da ihr 50. Lebensjahr ein wenig überschritten – wird bei ihr ein weit fortgeschrittener, inoperabler Bauchspeicheldrüsenkrebs festgestellt, der bereits metastasiert ist. Als "Chronistin" protokolliert Melitta Breznik die letzten knapp sieben Wochen, in denen sie sich um die Mutter kümmert. Sie ist zugleich Innen- wie Außenstehende, fühlt sich überfordert, ihr älterer Bruder kommt zwar einigermaßen regelmäßig vorbei, doch rasch stößt sie an emotionale wie professionelle Grenzen.

"Als Tochter bereitet mir die Situation Abscheu und Mühe, ich finde mich schwer zurecht in der Rolle der Ärztin, die im Kopf die Trinkmenge auflistet, sich die schlechten Werte der Nierenfunktion vorstellt, die Auswirkungen auf den Gesamtorganismus abwägt. Es gilt, alles medizinisch Sinnvolle zu unternehmen, um Mutters Leiden zu lindern, doch sehe ich ebenso ihr Bedürfnis nach Ruhe. Alles in mir sträubt sich dagegen, ihr Schmerzen zuzufügen."

Es ist Mitte Oktober, und Breznik wünscht sich Schneefall, Schnee, der alle Geräusche beim Einkaufen, in der Apotheke, beim Warten in der Ordination, "dämpfen und die Stille des Winters über die Welt stülpen möge". Dann wird es November. Das eigene Leben ist zurückgestellt. Zukunft? "Die Zukunft ist die Zeit nach Mutters Tod." Am 1. Dezember stirbt sie.

Auch Vergangenes spielt eine essenzielle Rolle. Auf sparsamem Raum wird das Leben der Mutter erzählt, ihre Jugend in Hessen, wie sie sich während des Krieges in einen in der Nähe von Frankfurt stationierten Steirer verliebte, ihm nach dem Krieg in seine Heimat folgte, die für sie lange Zeit Fremde blieb, von Fehlgeburt und frühem Tod des ältesten Sohns, von Brezniks Vater, der in Schweigen und Alkohol floh, von der scheiternden Ehe, dem neuen Aufbruch ins Leben mit 60, Reisen in Gesellschaft, kleinen und großen Freuden.

Breznik findet eine an keiner Stelle zwanghaft künstliche, jedoch ganz ruhige, fast asketische Sprache, ohne aufgesetzte Lichter, falsche Ornamentik oder hohles Pathos für die Situation des Begleitens ins Sterben, in den Tod. "Der Rest des Raumes ist ins Dunkel getaucht, als würde das Licht meine Sphäre von der meiner Mutter trennen und doch eine behagliche Gleichzeitigkeit ermöglichen

Der Kreis der Wahrnehmung wird kleiner, das Sehen genauer, die Welt, die sich hinter den Beobachtungen auftut, wird tiefer und ist nicht mehr zu vergleichen mit der, die einem entgegentritt, wenn man im normalen Getriebe des alltäglichen Arbeitens und Erledigens steckt." Sie ist eine genaue, sorgfältige, sensible Registratorin: "Mutter will nur ruhig liegen, will hinausschauen auf die Apfelbäume, deren hellbraune und rotgelbe Blätter im warmen nachmittäglichen Herbstlicht leuchten. Ich kann ihr an diesen langen stillen Tagen nicht anders beistehen, als ihr die Hand zu halten."

Das Sterben ist andererseits keineswegs etwas Friedliches oder Harmonisches, ganz zu schweigen von Ästhetischem, teilweise krass schildert Breznik das sukzessive Nachlassen von Körperfunktionen. "Dieses ‚Aus-der-Welt-Gleiten‘ ist manchmal kein Gleiten, sondern ein Zerren, ein Winseln und Toben, ein innerliches Kreischen und Schlagen, das dann doch wieder in ein Schweben umzuschlagen scheint, in ein Fliegen und Träumen, eingebettet in Stille."

Schmerzlose Gesamtheit

Ariela Sarbacher, "Der Sommer im Garten meiner Mutter". 22,70 Euro / 160 Seiten. Bilger-Verlag, Zürich 2020
Cover: Bilger-Verlag

Anders in Tonfall, Farbigkeit und Zugang ist das Buch der Zürcherin Ariela Sarbacher. Dafür verblüfft sie in ihrem Debütband, den die Schauspielerin, Rezitatorin und Präsenztrainerin nun im Alter von 55 Jahren vorlegt. Der Sommer im Garten meiner Mutter ist stilistisch reif, kompositorisch wagemutig, dabei diesen Wagemut leicht schulternd. Sarbachers Prosa ist viel heller als Brezniks Text, nicht chronikalisch, nicht im Dunkeldüsteren verharrend, schnell und ausgelassen springend zwischen Ereignissen, Erinnerungen und Jahrzehnten.

Sie rückt sich auch stärker in den Fokus. Es ist so ein Tochter-Mutter-Buch, in dem die Tochter einen nicht allzu kleinen Part für sich selbst reklamiert, durchaus erfolgreich. Es geht auch um das Hinauskämpfen aus dem Schatten der Mutter. Um den eigenen Weg. Um die eigenen Lebensentscheidungen. Auch um eigene Schwäche. Sarbacher nimmt, Autobiografisches sacht verschleiernd und verfremdend – so heißt die Tochter und Erzählerin "Francesca" –, sich nicht aus dem Spiel, vielmehr bringt sie sich sensibel, verletzlich, auch verzweifelnd ein ins Spiel ihrer facettenreichen Prosa.

Auch Francescas Mutter, eine Italienerin, gebürtig aus dem ligurischen Städtchen Chiavari gegenüber dem auf einer Halbinsel gelegenen Portofino, hat eine tödliche Krebsdiagnose bekommen. Auch sie zog einst in die Fremde, in die Schweiz. Auch ihre Ehe scheiterte, als die Tochter maturiert hatte und an der Schauspielschule aufgenommen worden war, auch sie begann ein neues Leben. Nur fasst sie den Entschluss, freien Willens, via assistierten Freitod, was in der Schweiz juridisch möglich ist, aus dem Leben zu scheiden.

In einem Wirbel vieler Vignetten wird ihr Leben nachgezeichnet, zwischen Willensstärke und reichen Freundinnen in Italien, der temperierten Schweiz und dem Süden, Meer und Urlaubsreisen, Verletzungen und zuschnappendem Temperament, Kämpfen und Versehrungen, am deutlichsten ihr Hinken infolge einer langwierigen, fast tödlichen Fußinfektion.

Am Ende erfüllt Francesca den letzten Wunsch ihrer Mutter, die kremiert werden wollte. Ihre Asche solle, bestimmte sie, im Meer vor Chiavari verstreut werden. So lässt sich Francesca mit Familie und dem Freund der Mutter in einem Boot hinausfahren. "Ihre pulverisierten Knochen sind schön. Eine schmerzlose Gesamtheit, im Tod eine gesammelte Einheit. In ihrem Leben eine schmerzvolle Angelegenheit. Wir schütten sie aus.

Trotz ihrer Abwesenheit fühlen wir uns nicht allein. Ihr Wunsch gleitet durch uns ins Meer hinein." (Alexander Kluy, 9.5.2020)