Das multimediale Projekt der in Wien lebenden Künstlerin Franzi Kreis (Jahrgang 1991) versammelt 45 Protokolle von Frauen im Alter zwischen neun und 96 Jahren. Mit ihnen hat Kreis über ihre Beziehung zur eigenen Mutter gesprochen. Die Wanderausstellung ist derzeit in verschiedenen Schaufenstern in Wien zu sehen. Bestens geeignet für einen Muttertagsspaziergang am Sonntag, den 10.5.2020, alle Infos auf der Homepage!

Links:

www.findingmotherland.com

www.franzikreis.com

"Eines Tages war mein Kinderpelzmantel verschwunden. Meine Mutter holte mich an diesem Tag vom Kindergarten abund öffnete dort alle Kästen. Sie zog mir mit zitternden Händen allerlei Jacken und Westen über, wie eine Zwiebel! Siewar äußerst besorgt. Ich erinnere mich noch gut, wie ihr Pelzmantel und ihre Haube nach Schnee und Kälte rochen undihre dünne Nase sehr kalt war. In Izhevsk haben wir im Winter minus 30 Grad."

Eines Tages war mein Kinderpelzmantel verschwunden. Meine Mutter holte mich an diesem Tag vom Kindergarten ab und öffnete dort alle Kästen. Sie zog mir mit zitternden Händen allerlei Jacken und Westen über, wie eine Zwiebel! Sie war äußerst besorgt. Ich erinnere mich noch gut, wie ihr Pelzmantel und ihre Haube nach Schnee und Kälte rochen und ihre dünne Nase sehr kalt war.

Meine Mutter wurde am 28. Juni 1973 geboren. Meine Großmutter war Ärztin und mein Großvater Ingenieur. Über ihre Kindheit spricht sie kaum mit mir. In der Schule war sie das brave Mädchen gewesen, aber auf der Uni … oh, là, là! Als Studentin war meine Mutter wirklich sehr sexy. Sie hatte taillierte Kostüme, rotes gewelltes Haar und trug roten Lippenstift. Sie hat dann sehr früh meinen Vater kennengelernt. Als mein Bruder und ich auf die Welt kamen, waren die Zeiten schlecht. Das waren die 90er-, 2000er-Jahre. Wir trugen irgendwelche Pullis und Hosen, was übrig geblieben ist, was uns gebracht wurde. Die Beziehung zu meinem Vater wurde zunehmend schwieriger. Als frisch diplomierte Ärztin war sie eine geschiedene Frau mit großer Lebenserfahrung. Ihren Verlobungsring hatte sie in ihrer Not verkauft, und bald darauf traf sie einen neuen Mann. Die Männer kamen und gingen, sie achtete dennoch immer darauf, dass in erster Linie die Interessen ihrer Kinder gewahrt wurden. Sie hütete uns wie eine Löwin, bereit, jeden zu fressen.

In der Pubertät hatten wir heftige Auseinandersetzungen. Einmal kam es sogar so weit, dass sie mich mit einem Pantoffel schlug. Das war zwar nicht schmerzhaft, aber umso erniedrigender für mich. Heute würde ich sagen, dass wir uns damals gegenseitig erzogen.

Sie ist für mich die schönste Frau. Sie ist mein Ideal, und ich möchte ihr ähnlich sein. Eigentlich ändert sie sich jeden Tag, sie wacht als eine andere auf, als sie schlafen gegangen ist. Ich frage sie oft um Rat, und sogar meine Freundinnen rufen mich an und bitten um einen Ratschlag von meiner Mutter. Immer, wenn sie mir einen Rat gibt, fügt sie noch hinzu: "Niemand weiß, was richtig ist, und ich sage dir, mach, wie du es spürst!" Das ist das eine. Das Zweite: Wenn ich Rotz und Wasser heule, sagt sie mir immer: "Mascha, manchmal geschehen Dinge in der Welt, die du bei all deiner Anstrengung und Kraft nicht kontrollieren kannst, also entspann dich und lass es gehen.

In Izhevsk haben wir im Winter minus 30 Grad. Um von Moskau nach Hause zu fahren, brauche ich 17 Stunden, es sind 1200 km. Das ist die richtige Distanz, um enge Beziehungen zu bewahren. Früher telefonierten wir täglich, jetzt seltener. Meine Mama hat ihr eigenes Leben, sie arbeitet und muss noch die Brüder großziehen. Wenn ich nach Hause komme, erwartet mich immer ein festliches Familienessen. Manchmal besucht auch sie mich, worüber ich mich sehr freue. Ich versuche, ihr ein volles Programm zu bieten und ihr Moskau zu zeigen. Als sie das letzte Mal bei mir war, wollte sie jedoch nur zu Hause sein – also saßen wir herum, tranken Tee und plauderten.

Foto: Franzi Kreis

Wien: "Wo wir uns immer gut verstehen, ist, wenn’s ums Essen geht. Wir essen beide gern. Sie hat uns einfach an jedem Tag, auch wenn’s der letzte Tag des Monats war, wo es eigentlich nicht mehr drin gewesen wäre, ein Stück Kuchen mitgebracht oder eine Schokolade."

Foto: Franzi Kreis

Mauthausen: "Arbeit adelt."

Foto: Franzi Kreis

Übersee am Chiemsee: "Ich habe ihr eine Muschel mit einer Perle drin geschenkt. Die hat sie immer noch, aber leider verschmissen."

Foto: Franzi Kreis

Wien: "Sie hat mich auch – mir wars nicht peinlich! – aber sie hat mich zu meinem Vorsprechen nach München begleitet, weil ich gesagt habe: "Kannst du bitte mitkommen?" Ich hatte Schiss alleine mit dem Zug. Da war ich noch nicht 17."

Foto: Franzi Kreis

Wien: Sie hat immer gesagt:"Schaust eh gut aus, aber nimm dir doch Ohrringe und stell dir den Kragen auf!"

Foto: Franzi Kreis

Moskau: Und genau dieses Nichtverstehen war verheerend, irgendwie gigantisch, denn du kannst nicht verstehen, warum sie dich in der Schule verhauen, den Rucksack wegreißen und dir nachrufen: – Du schlitzäugiges Miststück, geh zurück in dein beschissenes Pakistan (lacht). Meine Mama interpretierte es so, dass alle auf dem Elternabend in der Schule gesehen hätten, dass sie behindert sei. Deshalb! Aber es war nicht deshalb!! Sie hatten mich danach sogar weniger stark geschlagen, weil sie meinten, meine Mutter würde ihnen leid tun.

Foto: Franzi Kreis

Moskau: Wir wachen auf und trinken in der Küche unseren Morgentee. Mama und ich besprechen, was sie geträumt hat, was wir für diesen Tag vorhaben, welche Pläne wir haben. Für mich ist das eine sehr wertvolle Zeit, denn das Leben in Moskau läuft sehr schnell.

Foto: Franzi Kreis

Wien: "Die Reise muss ich meiner Mutter ja hoch anrechnen. Das war vor 51 Jahren und hat eine Woche gedauert. Wir sind quer durch Russland. Sie alleine, mit zwei kleinen Kindern und einem Koffer. Das andere haben wir alles in riesigen Kisten verschifft. Sie hatte uns an den Händen und wir hatten unsere kleinen Geigen an den Händen."

Foto: Franzi Kreis

Wien: "Jedenfalls sind wir bei der russischen Botschaft in Belgrad angekommen und meine Mutter hat durch das Gitter von der russischen Botschaft, die geschlossen war, die Dokumente einem Mann gegeben und ihn gebeten: Bitte, ich habe zwei Kinder, wir sind extra aus Novi Sad mit einem Mini Van hierher gekommen, falls sie morgen die Brücken zerstören, gibt es keinen Weg mehr, hierher zu kommen."

Foto: Franzi Kreis

Wien: "Auf jeden Fall ist sie nach New York geflogen, 1958 und hat in der UNO gearbeitet. Sie hat mir mal erzählt, sie hat zwar die ganzen Adressen der Nazis gehabt, aber im Endeffekt hat sie dann alle Juden kennengelernt und wurde eigentlich aufgeklärt von der Geschichte."

Foto: Franzi Kreis

Wien: Eigentlich sehe ich sie nackt, von der Sonne gebräunt auf einer Bank draußen sitzen mit zugebundenen Haaren.

Foto: Franzi Kreis

Wien: "Ich weiß, dass ich ein wahnsinniges Mamakind war und meine Mutter unglaublich gern mochte. Manchmal habe ich mich so gefreut, wenn ich sie nach der Schule gesehen habe, dass ich mich in ihre Arme geschmissen habe. Da hatte sie im Winter immer so eine unglaublich überdimensionale, astronautische, blaue Daunenjacke an."

Foto: Franzi Kreis

Wien: Wenn jemand sagt, dass ich ihr ähnlich schaue, dann sagt sie: "Was wollen Sie trinken? Ich lade sie ein!"

Foto: Franzi Kreis

Wien: Meine Mama hat’s geschafft, ihn mir auszureden.

Foto: Franzi Kreis

Wien: Ich frage jemanden: "Wie geht es dir?", weil ich wissen will, wie es ihm geht. Meine Mutter hat dann gefragt: "Und, hast du abgenommen?" Das war ihre Frage für: "Geht’s dir gut?"

Foto: Franzi Kreis

Wien: "Wir sind auf den Lastautos unter Planen versteckt über die tschechisch-österreichische Grenze."

Foto: Franzi Kreis

Wien: Ich habe meine Mutter zuletzt vor 10 Jahren gesehen.

Foto: Franzi Kreis

St. Leonhard am Hornerwald: Meine Mutter heißt Theresia, die Großmutter, die Urgroßmutter, meine Schwester, lauter Resis, lauter Theresias.

Foto: Franzi Kreis

Wien: Sie scherzten über sie: "Die besten Ehemänner der Sowjetunion liegen ihr zu Füßen!" Daher hat meine Mutter natürlich mehr als einmal geheiratet.

Foto: Franzi Kreis

Moskau: Heute können wir uns nicht vorstellen, wie es war, aus den USA in die Sowjetunion zurückzukehren. Niemand ging damals ins Ausland! Es war eine wilde Erfahrung für sie: niemand versteht, wie du dich fühlst und du musst schweigen, denn es war offensichtlich, dass sie Spione waren.

Foto: Franzi Kreis

Moskau: Jedes Gespräch beendet meine Mutter mit dem selben Ratschlag: "Deshalb Polja, gehe bitte in die Kirche!" (lacht). In diesem Satz mag nicht viel Weisheit enthalten sein, aber er erinnert mich automatisch an meine Mutter.

Foto: Franzi Kreis

Moskau: Das berühmte poetische Zitat "Kämpfen und suchen, finden und sich nicht unterkriegen lassen!" das beschreibt die Lebensweise meiner Mutter.

In der Schule sprach meine Biologielehrerin mir Lob aus, dass ich mit meiner Mutter spazieren gehen und mich nicht für sie schäme. Erst später verstand ich den Grund für die schiefen Blicke: die Erkrankung ICP (Infantile Cerebralparese) meiner Mutter.

Foto: Franzi Kreis

Moskau: Im Jahre 1918 brach die Revolution aus. Die Roten besetzten das Kubangebiet und metzelten alle wohlhabenden Großbauern, die Kulaken, nieder. Die Eltern verschwanden auch. Meine Mutter blieb bei ihren Verwandten, auch reiche Kulaken. Als auch diese Verwandten nach Sibirien verschickt wurden, blieb meine Mutter mit ihrem Cousin alleine.

Foto: Franzi Kreis

Moskau: Meine Mutter meint über uns Frauen, dass wir wie Ackergäule sind, auch wenn es uns schlecht geht, müssen wir trotzdem aufstehen und weitergehen.

Foto: Franzi Kreis

Ybbsitz: Meine Mutter wurde im Jahr 1897 geboren. Es ist erst 14 Tage her, da hat mir von meiner Mutter geträumt. Sie ist dahergekommen, die Mutter, ganz wie sie war, ein Gewand und eine Schürze hat sie angehabt und ich sage: "Ja Mutter, wo kommst du denn her?" Und sie sagt: "Du kommst ja nicht!" Und ich: "Ja, wo soll ich denn hinkommen?" Ein ganz kurzes Gespräch, währenddessen hat sich die Mutter verflüchtigt und war weg. Und ich war munter.

Foto: Franzi Kreis

Slano/Traunstein: Sie ist in die Wohnung hinunter, hat eingeheizt und hergerichtet, damit sie es gemütlich haben, wenn sie nach Hause kommen, weil es war ja Winter und eiskalt. Die Wohnung hatte nur Ofenheizung. Sie haben es bestimmt warm vorgefunden, als sie gekommen sind. Sie haben scheinbar noch abend gegessen und dann hat mein Vater meine Schwester mit der Schrotflinte erschossen und sich selbst auch.

Foto: Franzi Kreis