Haben auch Sie einen Ihrer Mitbewohner vor kurzem in einer Mehlwolke verschwinden sehen? Puff!

Dann sind Sie nicht allein. Das Coronavirus kam, die Leute blieben zu Hause. Auf einmal wurde Mehl verpulvert, Germ gehamstert, Teig getätschelt, Gluten geknechtet, es wurden Brötchen gerollt, Sauerteige gefüttert, Teiglinge zugedeckt, auf Focaccia Tomaten und Petersilie gelegt, damit die Brote wie Gemälde mit Blumen aussahen, es wurden Striezel geflochten, und aus den warmen Öfen duftete es nach Dinkel-, Weizen- und Roggengebäck. Die Einbauküche wurde zur heimischen Großbäckerei. "Wir haben zum ersten Mal seit 15 Jahren wieder Germ an unsere Kunden verkauft", fasst der Bäcker- und Konditormeister Josef Schrott (56) die Lage zusammen. Er hat vier Bäckereigeschäfte in Wien. Bestimmt sechs Kilo Germ seien weggegangen, und auch Sauerteig wurde auf einmal nachgefragt: "Die geben wir in Bechern zum Mitnehmen heraus."

Die neuentdeckte Leidenschaft fürs Brotbacken als Freizeitbeschäftigung wurde zum internationalen Topos, Comedians wie James Corden rissen Witze darüber, und Fotos von Laiben dominierten Social Media – Hashtags #breadmaking und #breadporn. Und in den Regalen, wo einst Hefe und Mehl standen, war es auf einmal so luftig und leer wie sonst nur in Brötchen, in denen der Bäcker geschlafen hat.

Zwölf bis zwanzig Stunden Ruhe braucht der Brotteig, ehe man ihn in den Backofen schieben kann. Warum tut man sich das an?
Foto: Nora Reinhardt

Die beiden offensichtlichsten Gründe für die kollektive Backbesessenheit: Man hat viel Hunger, man hat viel Zeit. Aber wieso verfielen so viele ausgerechnet einem Backwahn? Es hätten ja auch alle anfangen können, Fahrräder zu bauen – ebenfalls praktisch und zeitaufwendig. Und denken alle wirklich heimlich, wie die Künstlerin Stefanie Sargnagel auf Twitter mutmaßte: "mein alltag ist so hektisch, meine arbeit so zehrend, dabei würd ich doch so gerne mal einfach nur zeit haben ein dinkelbrot zu backen"? Tja. Und ja, das ist Teig unter meinen Fingernägeln. Auch bei mir glitten zwei Brote, sechs Semmeln und acht Bretzeln vom Rost.

Angefangen hat es mit einem Instagram-Foto meines Kollegen Ferdinand, der zwei Weißbrote in einer Metallwanne mit den verführerischen Worten postete, er habe "das perfekte Weißbrot-Rezept". Es ist für das "No Knead Bread", eines der populärsten Rezepte, welches die New York Times je veröffentlichte. Sicher auch, weil man den Teig nicht kneten muss und so laut Jim Lahey, dem Erfinder aus der Sullivan Street Bakery in New York City, "selbst Sechsjährige", ach was, "Vierjährige" Brotbacken können, wie er in einem Video sagt.

The New York Times

Ein wenig "Nachkriegshefe"

Na dann! Einziges Problem: der Germ! Im Geschäft ausverkauft, im Web nicht lieferbar, Freunde haben keinen, nur meine Cousine Anna weiß Rat: Sie hat ein Rezept, bei dem man aus 100 Millilitern Bier, einem Teelöffel Zucker und einem Esslöffel Mehl einen Würfel Germ herstellen kann, wenn man das Gemisch über Nacht stehen lässt. Wir taufen die billige Ersatzpampe verwegen "Nachkriegshefe".

Am nächsten Morgen kommt sie zum Teig. Nur, wie viel? Ein Würfel Germ sind 42 Gramm. Eine Internettabelle besagt: 42 Gramm frischer Germ entsprechen 14 Gramm Trockengerm, 1 Gramm Trockengerm entspricht 3 Gramm Frischgerm, das ist wiederum ein Vierzehntel meiner Pampe, und da ich keine Küchenwaage habe, halbiere ich so lange, bis ich ein Sechzehntel habe, und gebe einen Mini-Klecks obendrauf. Mathematisch bin ich bereits erschöpft, ehe ich lese, man solle den Teig zwölf bis 20 Stunden ruhen lassen. Wer schreibt solche Rezepte? Telefontechniker, die ihre Ankunft auf 9 bis 18 Uhr schätzen? Verhaltenspsychologen, die Ungeduld erforschen? Und was soll "Zimmertemperatur" bedeuten? Zimmertemperatur auf Hawaii, Südschweden oder im Ländle?

Ich bin nun auch philosophisch erschöpft und brauche genau wie mein Teig 12 bis 20 Stunden Ruhe. Am Sonntag um 5.30 Uhr klingelt mein Handywecker mit dem Baguette- und Toastbrot-Emoji. Wieso tu ich mir das an? Wäre es schlimm, wenn mein Teig 23 Stunden ruht? Um 6 Uhr gehe ich mit Augenringen, so groß und dunkel wie Laugenweckerln, in die Küche. Ich schwöre mir, beim nächsten Mal um 13 Uhr am Vortag mit dem Teig zu beginnen, sodass ich ihn am nächsten Morgen um 9 Uhr bearbeiten und um 10 Uhr essen kann.

Es ist ein wenig schrumpelig (vielleicht wäre echter Germ besser gewesen), aber mein Brot duftet, ist knusprig und schmeckt herrlich.
Foto: Nora Reinhardt

Schrumpelig, aber schön

Mein Urgroßvater Ludwig Reinhardt war Bäcker in Bayern, er heiratete meine schwangere Uroma 1915 an der Front. In seiner Bäckerei gab es nur Mischbrot – Weizen war einfach zu teuer. Das heute so gelobte Vollkornbrot wurde an die Stalltiere verfüttert. Die Kunden ließen anschreiben und zahlten am Wochenende – vielleicht. Was würde mein Uropa dazu sagen, dass es jetzt angesagt ist, zu Hause Brot nach eigenen Vorstellungen zu backen? Und, wichtig: Würde ihm mein erstes Brot gefallen?

Am Sonntagmorgen um 7.15 Uhr halte ich mein warmes Brot in den Händen, ich drück es an mich und halte den Moment purer Euphorie mit einem Foto fest. Das Brot ist knusprig und schmeckt. Ein bisschen schrumpelig ist es, und ich bin mir nicht sicher, ob es mit echtem Germ nicht besser gelungen wäre, aber wie könnte man einen Sonntag schöner beginnen, als mit zerlassener Butter auf frischem Brot, für das man nicht mal das Haus verlassen musste? Die Kosten für 1 Gramm Germ und 400 Gramm Mehl: 0,28 Euro. Man spart also auch Geld.

"Erst in den letzten 20 Jahren entwickelte sich der Trend, selbst Brot zu backen. Durch Corona wurde es vom Nischenhobby zum Massenphänomen."

Schon seit 2500 vor Christus buken Ägypter mehr als ein Dutzend verschiedene Brote, kannten Sauerteig und tüftelten an Backöfen. Der Bäckerberuf entstand in Europa im 10. Jahrhundert, aber die Bäcker mussten sich den Dorfofen noch teilen. Es dauerte Jahrhunderte, bis zunächst jeder Bäcker und schließlich jeder Haushalt seinen eigenen Ofen hatte. Doch auch, als es die technische Möglichkeit dazu gab – die Bereitschaft, Brot zu backen, war nicht da. Erst in den vergangenen 20 Jahren entwickelte sich der Trend, selbst zu backen, kleine Brotbackmaschinen für Zuhause kamen langsam auf – aber erst jetzt wurde das Nischenhobby zum Mainstreamphänomen.

Die Rekulinarisierung

Ein paar Tage nach meinem Erfolgserlebnis schreibt mir meine Freundin Oda, sie habe Biogerm in einem Laden für 1 Euro entdeckt, ob ich welchen wolle. Natürlich! Wer hätte gedacht, dass man 2020 telefonisch Germ vorbestellt? Mein Care-Paket enthält gleich fünf Germwürfel. Ich fühle mich verpflichtet, so richtig loszulegen.

Für den promovierten Ernährungssoziologen Daniel Kofahl (38), Dozent an der Universität Wien, die typische Reihenfolge. Er führt Studien über kulinarische Kommunikation durch und hat während der Corona-Krise gezielt nach Kommentaren und Beiträgen im Internet gesucht und systematisch ausgewertet. Er geht davon aus, dass der Mainstreambacktrend begann, weil immer mehr Menschen am Anfang der Epidemie "auf einer Konsumwelle mitgeschwommen sind". Das schien zunächst irgendwie gut zu sein, um im Notfall einen Vorrat zu haben. Er und sein Team konnten dann anhand von Statistiken für Suchanfragen im Netz sehen, dass viele gar nicht wussten, was sie mit dem gekauften Mehl machen sollten. "In vielen Kommentaren wurde immer wieder erwähnt, dass man mit Mehl ja Brot backen könne." Das war, so Kofahl, für viele ein Impuls, diese Herausforderung anzunehmen. Er sieht im Backen von Brot im Homeoffice einen wichtigen Schritt zur "Rekulinarisierung". Natürlich wurden auch Kuchen gebacken, und es wurde mehr gekocht, aber bei keinem Produkt war der Anstieg so signifikant wie beim Brot.

Dass der Trend so schnell Fahrt aufnahm, dafür sieht der promovierte Lebensmittelwissenschafter und Ernährungspsychologe Klaus Dürrschmid (55) von der Boku in Wien mehrere Gründe. Das Fotografieren scheint – räusper, nicht nur bei mir – ein Teil des Geheimnisses zu sein. "Das Verbreiten der Fotos vom eigenen Brot dient der Konstruktion der eigenen Persönlichkeit" – und zur "sozialen Differenzierung".

Das Verbreiten der Fotos vom eigenen Brot dient der Konstruktion der eigenen Persönlichkeit, sagt der Ernährungspsychologe. Aha.
Foto: Nora Reinhardt

Zurück in alte Muster?

Es ist plausibel anzunehmen, dass nicht alle gleichmäßig dem Backwahnsinn verfallen sind: Wer zehn Stunden auf der Intensivstation gearbeitet hat, kommt sicher nicht heim, um ein paar Weizenbrötchen anzusetzen. Daten, wer genau zu Hause backt, gibt es allerdings keine. Und wie nachhaltig schätzt Dürrschmid den Trend ein? "Manche werden sicher dabeibleiben, aber meist führt eine Änderung der Rahmenbedingungen dazu, dass Menschen in alte Muster zurückfallen." Krisen-Backen sei aber eine schlüssige Reaktion auf die Veränderung der Lebenssituation: "Man kommt in die Aktivität und fühlt sich weniger ausgeliefert."

Eine Studie von japanischen Forschern 2013 zeigte, dass das Stresshormon Cortisol im Blut abnimmt, wenn man etwas weiches, warmes – wie einen Teig – anfasst. Gut belegt ist laut Dürrschmid zudem, dass Backaromen eine "beträchtliche psychologische Wirkung" haben: "Sie bewirken, dass wir uns geborgen, heimelig und umsorgt fühlen."

Manche Bäckereien hatten Umsatzeinbußen von 90 Prozent. Einige der mehr als 1.100 Bäckereien in Österreich kämpfen jetzt ums Überleben, auch die großen. Unvergessen der Videoaufruf von Bäckerei-Chefin Doris Felber, man solle sich nun unbedingt "einen Kürbiskernspitz einehäckseln". Hand aufs Herz, stört das Zuhausebacken die Bäcker nicht?

Den Bäcker freut's

Kommerzialrat Josef Schrott, Innungsmeister der Bäcker Österreichs, freut es, dass mehr Menschen zu Hause backen: "So sehen die Leute mal, wie viel Arbeit in einem Brot oder in Weckerln steckt." Allerdings. "Ich denke, die Leute wissen Qualität mehr zu schätzen und sind bereit, mehr Geld für gute Produkte auszugeben." Das stärke die Kleinen. Und vielleicht gebe es ja sogar wieder mehr Lehrlinge. Drei Jahre lernt man Lebensmittelkunde, alle Gebäckformen, Fachbegriffe, alles über die mikrobiologischen Prozesse, Brotkrankheiten, Brotfehler und übt die Techniken ein. "Ein Bäcker macht ja mehr, als nur Wasser und Mehl zusammenzurühren."

Bleibt eigentlich nur noch die Frage mit der Zimmertemperatur. "Teige sind sehr unterschiedlich, tagesformabhängig. Es kommt auf die Luftfeuchtigkeit und Temperatur an." Die Hefe arbeite am besten "bei 35 Grad", erklärt Josef Schrott, "der Sauerteig bei 26 bis 31 Grad Celsius". Es sind heiße Zeiten. (Nora Reinhardt, 11.5.2020)


Jim Laheys "No Knead Bread"

Zutaten:

400 g Mehl für den Teig und etwas Mehl zum Bestäuben der Arbeitsfläche,
1/4 TL Trockengerm (1 g),
1 1/4 Teelöffel Salz (8 g),
300 Milliliter Wasser

Zubereitung:

In einer Schüssel 400 g Mehl, 1 g Germ und 8 g Salz vermengen, 300 ml Wasser dazugeben und mit der Hand vermengen, um einen zähen, klebrigen Teig zu erhalten. Die Schüssel mit Frischhaltefolie abdecken und 12 bis 20 Stunden gehen lassen, sodass die Oberfläche mit Bläschen übersät ist. Auf ein Küchenhandtuch Backpapier legen, das Papier mit Mehl bestäuben und mit einer mehligen Hand den Teig darauf platzieren. Teig von vier Seiten je einmal in die Mitte falten, das Küchenhandtuch darüberlegen und den Teig erneut etwa eine Viertelstunde ruhen lassen, ehe man eine Kugel formt und ihn erneut zwei Stunden mit einem weiteren Küchenhandtuch bedeckt ruhen lässt.

Die Naht des Teiges ist unten, der Teig wird mit Mehl bestäubt. Drückt man mit der Fingerkuppe in den Teig, und die Delle bleibt bestehen, formt sich aber wieder zurück, ist der Teig ideal. Ofen auf 250 Grad vorheizen und Topf mit Deckel hineinstellen. Den Teig in den heißen Topf stürzen und bei 30 Minuten bei geschlossenem Deckel, dann mit offenem Deckel etwa 15 bis 30 Minuten unter ständiger Beobachtung backen – so lange, bis die Kruste karamellbraun gebacken ist.