Ein versierter Jazzer als instrumentaler Popsänger – der israelische Trompeter Avishai Cohen.

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Das Covergemälde der CD Big Vicious zeigt eine in neblige Düsternis gehüllte Combo, die in ihren Reihen nebst einsamem Trompeter gleich zwei Schlagzeuger und zwei Gitarristen führt. Das muss krachen! Eine doppelt besetzte Rhythmusgruppe steht ja gemeinhin für ekstatische Opulenz und jazzige Exzessivität. Nichts davon jedoch interessiert das Quintett des israelischen Trompeters Avishai Cohen, das er auf "Big Vicious" taufte.

Die Band tönt, als hätten sich smarte Jazzer als Popcombo getarnt, um Lieder ohne Worte zu hauchen. Der Gesangspart ist dabei Cohen, dem Instrumentalsänger, überantwortet. Er schwebt elegisch durch sich ständig neu mischende Klangnebel und dezente Grooves. "Wir kommen alle vom Jazz, aber ein paar von uns kehrten ihm den Rücken", fasst Cohen die Haltung des bei ECM erschienen Projekts zusammen.

Auf sanft brodelnder Basis lässt es Elemente von Ambient, Rock, Pop und Trip-Hop im Geiste der Entschleunigung aufleben. Eine reduzierte ätherische Version von Beethovens Mondscheinsonate (1. Satz) ist ebenso dabei wie Teardrop, ein Hit von Massive Attack, bei dem Cohen den Part von Sängerin Liz Fraser übernimmt.

Pop-Freiheit in Indien

Cohen (Jahrgang 1978) spielte einst unter Dirigenten wie Zubin Mehta, Kurt Masur oder Kent Nagano in Orchestern klassische Trompete, ging aber dann quasi als Maturant in die USA ans Berklee College of Music. Im Laufe der Jahre etablierte er sich als ausdrucksstarker Improvisator, was dann letztlich auch hieß, nicht mehr mit dem Namensvetter (dem auch nicht unbekannten Bassisten) Avishai Cohen verwechselt zu werden. Zudem gewann er die Kritiker-Poll von Down Beat.

Nun ist es jedoch schon fast ein Jahrzehnt her, dass der Mann aus Tel Aviv die – allerlei Jazzkräfte fordernde – Metropole New York hinter sich ließ, um auch in Indien zu leben. Und mixt man dies alles zusammen, kommt wohl genau diese Einspielung heraus: Als Versuch, stressige Jazzregelwerke abzustreifen und durch die Anbindung an Popelemente Freiheit, Aktualität und Reichweite sichernden Wohlklang zu generieren.

Keine überflüssigen Noten

Vom Jazzstandpunkt aus klingt alles provokant reduktionistisch: Zwar fischt Cohen mit lyrischem Spiel in Ausdruckgewässern, die Miles Davis bei In A Silent Way oder Jahrzehnte später Nils Petter Molvær mit Khmer durchschwammen. Cohen jedoch entschlägt sich jeglicher Soli. Gerade noch bei Fractals entschlüpft ihm eine rasante Linie. Das war’s.

Die Improvisationsaskese ist nicht zufällig: "Uns geht es nicht wirklich darum, Soli zu spielen", so Cohen. Auch wäre daran zu erinnern, dass er schon früher "keine überflüssigen Noten" spielen wollte. Allerdings strebten dies auch Miles Davis und andere Lyriker der Trompeter an, ohne jedoch so weit zu gehen wie Cohen. Big Vicious kann somit als Dokument der Selbstverleugnung verstanden werden wie auch als Form von instrumentaler Meditation. In jedem Fall ist es ein trostvolles Mittel, die erzwungene Entschleunigung dieser Tage besser durchzustehen. (Ljubiša Tošic, 9.5.2020)