Werner Jakits trägt immer einen Hut, ist der beste Frühstückslokalbesitzer der Welt und benötigt dazu nur 38 Quadratmeter und acht Tische plus ein Kindertischchen mit Buntstiften. In seinen "Breakfast Club" in der Schleifmühlgasse im vierten Wiener Bezirk geht man seit 16 Jahren wegen des Kaffees, klar, aber vor allem wegen dem Werner und der "Christl", die eigentlich Christina Jägersberger heißt und das Lokal seit einigen Jahren mit ihm gemeinsam führt. Und natürlich wegen der Musik, die hier von einem Plattenspieler kommt und schon in der Früh die Stimmung für den weiteren Tag vorgibt. Wenn der Werner gut drauf ist und die Sonne scheint, dann laufen die Shirelles und die Supremes. Regnet es und ist die Stimmung leicht getrübt, dann kommen Johnny Cash oder Tom Waits über die Boxen.

Am 15. Mai, wenn die Gasthäuser und Lokale nach 71 Tagen Lockdown wieder aufsperren dürfen, spielt es hier wohl abwechselnd Up-Tempo und Blues. Zwar ist Werner froh, dass es endlich wieder losgeht, doch wegen des Sicherheitsabstands von einem Meter können von den acht Tischen im Inneren des kleinen Lokals nur vier belegt werden, draußen vor der Tür gehen sich nochmal zwei Tische aus. Die Preise für eine Portion Ham & Eggs oder Porridge sind günstig, an sehr guten Tagen konnten Werner und Christl maximal 480 Euro Umsatz machen – vor Corona. Jetzt werden es im Idealfall 240 Euro sein. "Das ist ein Wahnsinn", sagt Werner. "Es ist zu wenig zum Überleben. Und zu viel, um zuzusperren." Von den 1.000 Euro aus dem Härtefallfonds eins konnten gerade die April-Miete fürs Lokal und die Versicherung gezahlt werden.

Im "Breakfast Club" von Werner Jakits und Christina Jägersberger (li.) spielt es ab der Wiedereröffnung am 15. Mai abwechselnd Up-Tempo und Blues: "Es ist alles ein Wahnsinn."
Foto: Heribert Corn

Die fünf Studenten, die zuvor geringfügig angestellt waren und sich mit dem Trinkgeld ihr Studium finanziert hatten, mussten gekündigt werden. "Das ist auch menschlich schmerzhaft", sagt Christl. "Wir waren das perfekte Team."

Das große Bibbern

Die Schleifmühlgasse führt von der Rechten Wienzeile bis zur Wiedner Hauptstraße und bietet Touristen auf ihren 450 Metern nicht ein einziges verlässliches Fotomotiv. Trotzdem empfiehlt die Online-Reisesektion der New York Times sie als eine der "faszinierendsten Straßen" des Viertels. Das liegt vielleicht auch daran, dass es hier auf kurzer Distanz nicht weniger als vier Galerien und 18 teils eigenwillig-charmante Lokale gibt. Jeder hat seine Stammkundschaft, dazu kommen die Touristen, und die Wirte helfen einander – wenn mal Gurken oder Wein ausgegangen sind, rüber über die Straße, ist doch klar, kein Neid. Jetzt gehen allen die Manschetten.

Am Beispiel der Schleifmühlgasse lässt sich im Kleinen erzählen, was im Großen derzeit in ganz Österreich passiert. 56.515 Gastronomiebetriebe gibt es in Österreich, im letzten Jahr erwirtschafteten sie einen Umsatzerlös von 10,9 Milliarden Euro. Vor Covid-19 waren hier 320.196 Menschen beschäftigt (inklusive Geringfügige). Ende April sind nun 97.763 Gastromitarbeiter in Kurzarbeit, weitere 118.725 arbeitslos oder in AMS-Schulung – um 130,4 Prozent mehr als im Vorjahr.

18 Lokale gibt es in der Schleifmühlgasse in Wien.
Foto: Heribert Corn/www.corn.at

Die Branche Beherbergung und Gastronomie ist von den wirtschaftlichen Folgen der Pandemie am stärksten getroffen. Peter Dobcak, Obmann der Fachgruppe Gastronomie Wien in der Wirtschaftskammer: "Wir befürchten, 20 bis 30 Prozent der Betriebe zu verlieren – vom Würstelstand bis zum Haubenrestaurant. Gefährdet ist grundsätzlich jeder Betrieb, die Liquiditätsreserven in der Gastronomie sind einfach sehr knapp. Somit entscheidet quasi die Bank, wer überlebt." Er rechnet mit mehreren Konkurswellen in den kommenden zwölf Monaten: sofort, wenn die Vollkosten einsetzen, aber der Umsatz noch zu gering und kein Fixkostenzuschuss da ist. Im Juni, wenn doppelte Gehälter fällig werden und Mitarbeiter aus der Kurzarbeit kommen, aber 30 Tage nicht gekündigt werden dürfen. Dann im Herbst, wenn die Stundungen auslaufen und erste Kreditraten anfallen. Schließlich im Winter – bei den nächsten doppelten Gehältern und Sozialversicherungszahlungen.

Covid-19, K.-o.-Wirt-20

"Wo sind die versprochenen Milliarden der Regierung?", fragen einige der Wirte der Schleifmühlgasse, die sich zu einem Tratsch vor dem "Breakfast Club" eingefunden haben. "Von uns hat seit der Zwangsschließung noch keiner mehr als den ersten Härtefall-Tausender bekommen." Die Bürokratie in Phase zwei des Härtefallfonds oder bei Kurzarbeitsanträgen: Völlig irre sei das.

Der angekündigte Fixkostenzuschuss für Mieten, Zinsen, Versicherungsprämien und verdorbene Waren sei hilfreich, "wenn er denn schnell kommt". Für eine echte finanzielle Hilfe bräuchte es aber auch eine Steuerbefreiung für dieses Jahr. Zufällig schneit Friso Schopper, Besitzer der Champagner-Bar "Dosage" im ersten Bezirk vorbei. Er wohnt ums Eck und hat Aufkleber produzieren lassen: "COVID-19 = K.O.WIRT-20". Alle lachen. Es klingt ein wenig bitter.

Anzengruber

"Ich hab keine Ahnung, wie das werden soll", sagt Zana Markovina vom Café Anzengruber an der Ecke Schleifmühlgasse/Mühlgasse. Sie hat seit Start des Lockdowns keine Nacht durchgeschlafen. Die Sorge ums Lokal, dann musste auch noch ihre Mutter für ein paar Tage ins Spital. 1974 haben die Eltern, die aus Split nach Wien übersiedelten, das Anzengruber übernommen. Längst ist es eine Institution im Viertel, mehr noch: in Wien. Die Mutter steht immer noch manchmal in der Küche, in nächster Zeit natürlich nicht, "aber lange verbieten kann ich es ihr nicht". Tochter Zana kümmert sich um den Einkauf und das Essen, ihr Mann Andrija und ihr Bruder Tomi betreuen Schank und Gäste.

Katerstimmung im Anzengruber.
Zana Markovina und Bruder Tomi Šarić an der Bar ihrer Wiener Gasthaus-Institution: "Wie sollen wir jetzt kalkulieren?"
Foto: Heribert Corn

Das Anzengruber ist so, wie wir sind, sagt Zana. Ein Familienbetrieb, laut, überschwänglich, aufmerksam, warmherzig. Das mag man, genau wie die Einrichtung, altes Holz, ein wenig ranzig, sehr gemütlich. Abends ist es meist gerammelt voll, vor allem, wenn die Champions League läuft, die Spiele werden auf einer Leinwand über der Eingangstür übertragen.

Sonderbarer Schwebezustand

Jetzt gibt es keine Fußballmatches, keine Theaterpremieren, kein Freihausviertelfest, das sonst Ende Juni die Leute ins Gasthaus spült – und nur noch die Hälfte der Tische. Statt bisher um 16 Uhr wird ab 15. Mai schon um zwölf Uhr aufgesperrt. Mittagstisch statt Absacker an der Theke. "Wie soll ich das kalkulieren?", fragt Zana.

Bisher hatte sie es im kleinen Finger: zehn Kilo Zwiebeln, zehn Kilo Fleisch, das ergibt Gulasch für einen Wirtshaustag. Aber jetzt? "Soll ich 20 Schnitzel vorbereiten oder 50?" In der ersten Woche kommen die Gäste bestimmt, meint Bruder Tomi. Die Frage sei nur: wie lange? "Denen geht auch das Geld aus, die Krise haut ja allen die Füße weg." Und außerdem: Gastronomie sei Lebensfreude, Gemütlichkeit. Wie viel bleibt davon übrig, wenn das Lokal halbleer ist und der Wirt eine Maske trägt wie im Spital?

Wie viel Lebensfreude bleibt übrig?
Foto: Heribert Corn/www.corn.at

Die Skepsis ist angebracht. In einer Umfrage des Nachrichtenmagazins Profil erklärten 29 Prozent der Befragten, sie würden sich einen Restaurantbesuch zweimal überlegen, 28 Prozent haben bis auf Weiteres keinerlei Besuche geplant. Halb verwaiste Lokale, verkürzte Öffnungszeiten und Masken, um die paar Meter vom Gasthaustisch zur Toilette zu gehen. "Zombie Recovery" (Zombie-Wiederaufschwung) nennt die Financial Times diesen sonderbaren Schwebezustand.

"Scheintot, das trifft es punktgenau", sagt Mario Aurohom und schaut sich im leeren "Pinsatore" um. Seit 20 Jahren arbeitet er in der Gastronomie. Das eigene Restaurant war sein Lebenstraum. Vor vier Jahren sah er den in der Schleifmühlgasse 21 erfüllt. Er übernahm das ehemalige "Gino & Maria" und baute komplett um. Assyrische Küche sollte es geben, nicht gehoben, aber auch nicht billig. Doch das Konzept ging nicht auf. Das Geld ging aus, die Freude auch. Mario wollte verkaufen, aber die Interessentin sprang in letzter Minute ab. "Also habe ich einen letzten Versuch gestartet." Statt orientalischer Küche soll es Pinsa geben, eine italienische Urform der Pizza aus Sauerteig. Der Kredit wurde erhöht, Ende 2019 erneut umgebaut. Zwei Monate war geschlossen, ehe Mario und Schwester Mireil im Jänner das neue "Pinsatore" eröffnen konnten – um zwei Monate später wegen Corona wieder zuzusperren.

Letzten Winter haben Mario Aurohom und Schwester Mireil ihr Restaurant umgebaut. Zwei Monate nach der Neueröffnung als "Pinsatore" kam der Lockdown
Foto: Heribert Corn

Während des Lockdowns wurden ihre Pinsas zwar per Lieferdienst ausgeliefert, aber mehr als 200 bis 300 Euro pro Tag waren damit kaum drin. Eine Mietreduktion gab es während der gesamten Phase nicht, die Rücklagen sind weitestgehend aufgebraucht. Nur mehr Mario, Mireil und eine Hilfsköchin halten die Stellung. Natürlich werden sie um einen Überbrückungskredit ansuchen, "Was bleibt uns schon übrig?" Am Ende droht die Insolvenz. Würde er dann jemals wieder ein Restaurant aufsperren? "Nur einen Imbiss," sagt Mario. "Die neue Generation geht sowieso nicht mehr zum Abendessen ins Restaurant. Die brunchen maximal."

Beta-Test im Lokal

So wie in der "Vollpension" schräg gegenüber an der Ecke zum Kühnplatz. An den Wochenenden standen die Leute oft Schlange für einen Tisch, so ein Renner war das Konzept, in dem Omas und Opas für ein zusätzliches Einkommen zur Pension Kuchen backen und servieren. Sie sind im Schnitt 64 Jahre alt: die Covid-19-Risikogruppe. "Wir haben natürlich sofort geschlossen, um unsere Omas zu schützen", sagen die "Vollpension"-Gründer Hannah Lux, Julia Krenmayr und Moriz Piffl. Das sei extrem hart gewesen. Aber Krisen können auch kreativ machen.

Online wurde ein "Krautfunding" gestartet, mit dem man das Generationencafé unterstützen kann: Vom "Oma Karma Care Paket" (50 Euro, halb Gutschein, halb Spende) bis zum "Kaffee auf Lebenszeit" (1000 Euro). Für Backvideos der Omas auf Facebook und Youtube wurde ein Kooperationspartner gefunden. Aufgesperrt wird erst am 1. Juni, aus der "Vollpension" wird dann die "Halbpension": Man reserviert um 9,90 Euro für eine Stunde seinen Sitzplatz. Inkludiert in die Halbpension sind Kaffee, Tee, Limo so viel man will und ein Stück Kuchen. Die Omas selbst backen in einer externen Küche. Zwei Wochen soll der Beta-Test dauern. "Wenn das nicht klappt, sperren wir wieder zu. Das kommt dann günstiger," sagt Moriz.

Moriz Piffl und Julia Krenmayr (re.) machen aus ihrem Generationencafé "Vollpension" ab 1. Juni im Beta-Test die "Halbpension".
Foto: Heribert Corn

Timeslots für die Gäste – darüber denkt auch Michi Blaha, Betreiber des "Sektcomptoir" auf Nummer 19, nach. Gerade mal 38 Quadratmeter hat die kleine Bar, die Enge ist Teil des Erfolgskonzepts. "Man unterhält sich sofort an der Theke, es menschelt. Da entstehen Freundschaften, sogar Beziehungen. Das fällt jetzt völlig weg." Vielleicht ist es gescheiter, nicht aufzusperren, hat er sich kurz überlegt. Aber die Liebe zum Lokal ist einfach größer. Michi hat um einen Überbrückungskredit angesucht, das Okay von der Hausbank ist da, es fehlt noch das von der ÖHT, der österreichischen Hotel- und Tourismusbank.

Am 13. Mai wäre das 17-Jahr-Jubiläum des "Sektcomptoir", doch die Rollläden müssen noch zwei Tage unten bleiben, ehe Michi wieder aufsperrt, mit vier Tischen drinnen und vier im Schanigarten. "Wir sind vielleicht nicht die größten Steuerbringer, aber die Stimmungsmacher im Land", sagt er. "Jetzt kämpft der Wirt mit einem Plastikschild im Gesicht um sein Überleben. Wie da mit uns umgegangen wurde, das werden wir uns merken."

Das Sektcomptoir kann erst zwei Tage nach dem Jubiläum wieder aufsperren.
Foto: Heribert Corn

Tomi vom Anzengruber findet immerhin etwas Positives an dem Desaster der vergangenen Wochen: "Ich bin jetzt das erste Mal im Leben ausgeschlafen – und mit meinen Kindern per du!"

Das Anzengruber lebt auch von Tomis nie versiegendem Schmäh. So wie der "Breakfast Club" von Werners grummelig-freundlichem Wesen und die "Vollpension" von der berührenden Rührigkeit der Omas. Die Schleifmühlgasse wiederum lebt vom Kommen und Gehen und vor allem vom Beisammensitzen in all ihren Lokalen. Was in weiterer Folge das ganze Viertel am Leben erhält, und Dutzende, nein: Hunderte solcher Gassen machen eine Stadt aus. (Nana Siebert, 9.5.2020)