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Das Karlsruher Urteil zum Anleihenkaufprogramm der Europäischen Zentralbank (EZB) schlägt hohe Wellen. Unter Druck gerät aber nicht die EZB-Direktorin Christine Lagarde, glaubt Wirtschaftshistoriker Adam Tooze: In einen Kompetenzkonflikt schlittert die deutsche Bundesbank.

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In einem Interview mit der "Zeit" im April sagte der Wirtschaftshistoriker Adam Tooze, der Euro sei Geschichte, wenn sich Deutschland gegen die Europäische Zentralbank (EZB) stellt. Vergangene Woche gab es ein entsprechendes Urteil des deutschen Verfassungsgerichts ...

STANDARD: Das deutsche Verfassungsgericht hat sich vergangene Woche gegen die EZB gestellt. Die Anleihenkäufe seien verfassungswidrig. Was heißt das für die Eurozone?

Tooze: Die europäischen Instanzen werden sicherstellen, dass das deutsche Gericht keine Autorität über sie hat. In einer kritischen Position ist nicht EZB-Präsidentin Lagarde, die die Rückendeckung ganz Europas hat, sondern die Bundesbank und ihr Präsident Jens Weidmann. Er befindet sich in einem klaren Kompetenzkonflikt. Das deutsche Gericht beansprucht, gegenüber deutschen Bürgern und deutschen Instanzen Autorität zu haben. Nach der Leseart der meisten Interpreten hält das Statut der EZB aber explizit fest, dass die Mitglieder des Eurosystems aus den nationalen Verfassungssystemen ausgegliedert sind.

STANDARD: Man kann das Urteil in viele Richtungen interpretieren. Zum Beispiel als Anstoß zu mehr Europa. Wenn Staatenfinanzierung vonseiten der EZB nicht erlaubt ist, muss die EU eben einspringen. Ich denke an den Recovery-Fund, der im Corona-Hilfspaket vorgesehen ist.

Tooze: Ich sehe weder in der einleitenden Rede vom obersten Richter noch in der Presseerklärung noch im Text des Urteils diesen positiven Drall hin zu einer vertieften EU-Integration. Es ist vielmehr ein statisches Urteil. Es ging darum, die Trennlinien der Gewaltenteilung in Europa auszutarieren. Dass die Autorität der EZB derlei infrage gestellt wird, haben wir so noch nicht gesehen. Konkret von der Bank zu verlangen, dass sie sich anhand von Kriterien, die vom Gericht selbst festgelegt worden sind, erklären muss, ist ein radikaler Eingriff in die Autonomie der Zentralbank.

Adam Tooze sieht im Karlsruher Urteil keinen Drall in Richtung mehr EU. Vielmehr sei es ein "konservativer Bauernaufstand".
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STANDARD: Die deutschen Verfassungsrichter verlangen von der EZB, dass ihre Geldpolitik wohlbegründet und angemessen sein muss. Was ist das Problem dabei?

Tooze: Ich habe gar nichts gegen die Idee, dass die Geldpolitik begründet werden muss. Wenn man damit aber Ernst macht, muss man wissen, dass man die gewöhnliche Vorstellung der Unabhängigkeit verlässt, und man muss in eine ernsthafte und offene Diskussion über die Kriterien der Beurteilung eintreten. Diese Diskussion wäre kontrovers, aber zeitgemäß und produktiv. Sie ist notwendig, weil die Zentralbanken ihre Aktivität enorm ausgeweitet haben. Aber nicht willkürlich, sondern notgedrungen aufgrund der Strukturveränderung der modernen Wirtschaft. Das sollten wir in der Tat grundlegend diskutieren und der EZB ein entsprechendes neues Mandat geben. Was das Verfassungsgericht dagegen anstiftet, ist zwar juristisch verpackt, aber worum es inhaltlich geht, ist ein konservativer Bauernaufstand gegen die Realitäten der modernen Geldpolitik. Das Gericht stellt fest, dass es Kläger gibt, die sich über niedrige Zinsen beschweren. Darauf soll die EZB jetzt antworten. Da wird nichts abgewogen. Die makroökonomische Gesamtsicht fehlt vollkommen. Das Verfassungsgericht ignoriert das und sagt: Es gibt hier Interessenten, deren Expertisen behaupten, dass ihnen geschadet wurde. Denen soll die EZB jetzt antworten. Das ist nicht die Debatte über die Rolle der EZB, die wir brauchen. Das ist Stammtischökonomik.

STANDARD: Eine Botschaft, die etwa in Polen oder Ungarn ankommt, ist: Man kann EU-Instanzen notfalls übergehen.

Tooze: Das Urteil wird bestimmt so ausgelegt. Aber die EU-Instanzen werden jetzt ein bisschen allergischer darauf reagieren. Weil sie merken, dass die Richtung des Urteils nicht eine vertiefte Union ist, werden sie härter durchgreifen. Die Deutschen sollten sich keine Illusionen machen. Was man in internationalen Medien zu diesem Urteil liest, lässt vermuten: Es kommt jetzt hart.

STANDARD: Das Timing des Urteils ist auch nicht ideal – mitten in der Corona-Krise, nachdem sich bei den Verhandlungen um ein Corona-Hilfspaket tiefe Gräben zwischen Norden und Süden der Eurozone offenbart haben.

Tooze: Ja. Das hat man Herrn Voßkuhle angemerkt, als er das Urteil vorgelesen hat. Es scheint, als würde sich nun eine breite Koalition gegen dieses anmaßende Urteil bilden. Die Vorstellung, dass das nationale Verfassungsgericht in dieser Weise und in dieser Sprache in die Politik europäischer Instanzen eingreift, ist eine Beleidigung zu viel. Das Urteil ist tragisch, weil die EZB durch ihre Improvisationen die Spannung und Konstruktionsprobleme in der Eurozone ein Stückweit ausgeglichen hat.

STANDARD: Steht die Existenz der Eurozone auf dem Spiel?

Tooze: Nein, die Eurozone wird deshalb nicht auseinanderbrechen. Aber die Stimmung wird immer schlechter, der Raum für Kompromisse erodiert. Man macht sich das Leben gegenseitig unbequem, und die Desillusion der Italiener und Spanier ist ja mit den Händen zu greifen. Deutschland will als Vermittler auftreten und den Status quo verteidigen. Das ging nur wegen der EZB, die jetzt infrage gestellt wurde. Dass das Verfassungsgericht den hässlichen Deutschen richtig offen zur Schau gestellt hat, ist vielleicht nicht das Ungesündeste für die Union. Denn erst eine breite Koalition hinter dem Europäischen Gerichtshof und der EZB schafft politischen Druck. Eine solche Konstellation war meine Wunschvorstellung in der Debatte um Corona-Bonds.

STANDARD: Mit der Forderung nach Corona-Bonds war Italien zuletzt sehr allein.

Tooze: Weil Frankreich im Zweifel den Windschatten und die Augenhöhe mit Berlin sucht, nicht eine Koalition der Schwachen.

STANDARD: Aber es müssen ja nicht Corona-Bonds sein. Man könnte den Recovery-Fund auch über das Budget befüllen. Je größer der Topf, desto größer der fiskalpolitische Spielraum der EU.

Tooze: Macht man es über das Budget, hieße das auch, dass Osteuropa einen sehr großen Teil davon abbekommen würde. Er würde nicht in erster Linie hochverschuldeten Staaten helfen. Man müsste heikle Umverteilungsdebatten führen. Was sich aus historischer Perspektive zeigt: Mario Draghi und die geballte Intelligenz der Banca d'Italia haben es geschafft, die Hegemonie Deutschlands über die Geldpolitik auszuhebeln. Auf der fiskalpolitischen Seite ist aber kein Durchbruch gelungen. Das ist auch, wo wir uns letztendlich verfahren haben. Der Widerstand der deutschen Konservativen steigt, weil immer klarer wird, dass sie das große Spiel um die Geldpolitik verloren haben. Die Grundlage für Kompromisse wird dadurch nicht gerade gestärkt.

STANDARD: Sie sprechen von den Vorurteilen von den Italienern, die zwar auf mehr Vermögen sitzen als die Deutschen, aber ihren Laden nicht ganz im Griff haben?

Tooze: Im deutschen Finanzministerium gab es viele, die der Idee von Corona-Bonds etwas abgewinnen konnten. Corona-Bonds wären Neuverschuldung, keine Übernahme von Altschulden. Damit die Bonds eine gute Bonität haben, braucht es auch Einnahmen. Deshalb wurde über europäische Steuern nachgedacht. Man hat sich genau angeschaut, wer in Italien überhaupt Steuern bezahlt und auf was. Damit entstand die nächste Frontlinie: Man muss über die Vermögen der Italiener reden. Denn ihnen klang die Statistik in den Ohren, wonach die Pro-Kopf-Vermögen der Italiener deutlich höher sind als die der Deutschen. Gerade für Sozialdemokraten ist eine Umverteilungspolitik in Richtung Italien nicht vertretbar, wo es den wohlhabenden Italienern doch anscheinend so gut geht.

Wie vermögend sind sie nun, die Italiener? Dass sie auf dem Papier vermögender als die Deutschen sind, liegt auch an Wohneigentum, so Tooze.
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STANDARD: Wo ist das Problem?

Tooze: Die Statistik hat viel mit Wohneigentum zu tun. Die Deutschen sind Mieter und profitieren auf dem Papier nicht von den steigenden Immobilienpreisen. Aber ihr Lebensstandard ist mindestens so hoch wie der der Italiener. Es handelt sich in gewisser Weise um eine Milchmädchenrechnung. Selbst die am positivsten gesinnten Experten im deutschen Finanzministerium fahren diese kritische Schiene gegenüber Italien.

STANDARD: Trotzdem ist Italien auch für Korruption und Missbrauch des Sozialstaats bekannt.

Tooze: Das würde auch kein Italiener leugnen. Sie sind nicht Musterschüler, natürlich gibt es Misswirtschaft, und die Italiener sind ja auch die Notleidenden. Aber von der Fiskalpolitik her sind sie nicht zu beanstanden. Sie haben etwa in viel mehr Jahren einen Primärüberschuss erzielt als die Niederländer. Die italienischen Schulden sind Altlasten. Die Strategie der EU-freundlichen italienischen Elite war, dass mehr Europa einen Druck erzeugt, notwendige Strukturreformen im Inneren anzugehen. Aber wenn die Forderung als Vorurteil von einem hochnäsigen Niederländer oder Deutschen daherkommt, ist klar, dass man sich versteift und sagt: Warum sollen wir dieses Spiel mit euch treiben? Ein Teufelskreis. (Aloysius Widmann, 12.5.2020)