Samstag, 18. Mai 2019: Rückzug in die Österreichische Nationalbibliothek. Dieses Tagesprogramm war in Großbuchstaben im Kalender vermerkt. Denn an diesem Wochenende musste ich endlich den Artikel zum Thema "konservativ?!" verfassen, zu dem mich der Verlag Duncker & Humblot freundlicherweise eingeladen hatte. Eigentlich erstaunlich, dass der Herausgeber dieses Bandes, der Frankfurter Philosoph Michael Kühnlein, auch einer Stimme aus dem durch die gemeinsame Sprache getrennten Ausland Raum geben wollte. Was aber sollte ich dazu schreiben? Was kann einem schon zum Thema "konservativ" einfallen, wenn man im Museum lebt?

"Nie wieder FPÖ"

Während mein Fahrrad über die Pflastersteine am Michaelerplatz rumpelte und mir einer der dort auf Kundschaft wartenden Fiakerkutscher ein charmantes "Geh Oide, foah net so dicht zu meine Pferderln zuabi" nachrief, bemerkte ich ein selbst für stramm rechte Regierungszeiten ungewöhnlich starkes Polizeiaufgebot. Vom Ballhausplatz herüber tönte Musik, und als ich dem Lärm folgend neugierig näher kam, waren die Sprechchöre deutlich vernehmbar: "Nie wieder FPÖ".

Dieser 18. Mai 2019 schien, museales Ambiente hin oder her, wohl kein Tag wie alle anderen zu werden. Denn am Vorabend hatte nicht nur Österreich, sondern die halbe Welt ein Video bewundern dürfen, in dem der von der Kühnheit seiner eigenen Ideen geradezu berauschte Vizekanzler der Republik Österreich einer vermeintlichen Oligarchennichte den Kauf der auflagenstärksten Boulevardzeitung des Landes vorschlug – und für die dann angedachte Berichterstattung zugunsten seiner eigenen Partei, der sogenannten Freiheitlichen Partei Österreichs, Gegengeschäfte in Aussicht stellte, die nach simpelster Bürgerlogik ohne normative Gratwanderungen und unzulässige politische Interventionen gar nicht zustande kommen konnten.

Loblied auf die Dummheit

Die Menschen auf dem Ballhausplatz warteten auf den Rücktritt ihres Vizekanzlers. Warteten sie, wie so oft in Österreich, vergeblich auf das politisch Notwendige? Doch als ich dann endlich im Lesesaal der Nationalbibliothek ankam, war das Erhoffte wahr geworden. "Ein Lob der Dummheit", so schallte es mir laut lachend entgegen – und dies in einem Lesesaal, in dem für gewöhnlich weder Räuspern noch Hüsteln geduldet werden, vom Tuscheln mit Sitznachbarn zu schweigen.

Foto: APA/AFP/SPIEGEL and Sueddeutsche

Was, so fragte ich mich, sollte mir nun zum Thema "konservativ?!" einfallen? Meine Gefühle waren in Aufruhr, mein Kopf eine Serie von Bildern, Eindrücken und Assoziationen. Es gelang mir nicht, Ordnung ins Chaos zu bringen. Was schon sollte man zum Demokratieverständnis eines Landes sagen, in dem der vierte Mann im Staate die vierte Macht im Staate, die Medien- und Pressefreiheit, für ein verkauf- und tauschbares Gut hielt und auf dem Marktplatz parteipolitischer Machtambitionen zu verscherbeln versuchte?

Ein Loblied auf die Dummheit konnte nicht über dieses normative Vertigo hinweg helfen. Bloß raus aus diesem ethischen Naturzustand.

Österreich ist endlich wieder wer

Meine strapazierten politischen Nerven sehnten sich nach Verlässlichkeit und klaren Grenzen. An diesem 18. Mai 2019, an dem mich die österreichische Innenpolitik fest im Griff hatte und von der Arbeit abhielt, fühlte ich mich altbacken, nicht nur konservativ, sondern erzkonservativ – denn auf dem Spiel standen genau besehen die konstitutiven Säulen der Demokratie.

Doch halt sagte mir mein Verstand: Wir waren und sind ja hier in Kakanien – jenem Staat, den Robert Musil als die Verkörperung des Möglichkeitssinns beschrieben hat. Und entsprechend ist das Land geübt darin, politische Möglichkeiten und Unmöglichkeiten gekonnt durchzuspielen – bevorzugt in Form eines Kabaretts, das blanke Realität ist. Und die Bürgerinnen und Bürger des Landes haben sich längst daran gewöhnt, dass ihre wirklichen Kabarettisten, denen sie liebevoll zugetan sind, diese Realität gar nicht karikieren, sondern nur nachspielen müssen.

Inzwischen trudelten die Mails der Freunde aus Übersee ein: "Herlinda, it’s always hilarious when Austria makes it to the headlines!" Und während ich fassungslos und untätig auf den Laptop starrte, fielen mir die Philosophen ein.

Kein Land Kants

Allen voran Immanuel Kant und seine Mahnung, dass legitime politische Autorität ohne normative Selbstbindung nicht zu haben ist – also rechtmäßige staatliche Machtausübung theoretisch gesehen an einen Gesellschaftsvertrag gebunden ist, der die auf Vernunftgründen beruhende Zustimmung aller Bürgerinnen und Bürger zu dieser Machtübertragung an den Staat voraussetzt. Und zudem hatte uns Kant, wie ich mich schmerzhaft erinnerte, die Pflicht aufgebürdet, vom Naturzustand, wo die Macht des Stärkeren herrscht, in den Rechtszustand überzugehen, weil nur der Rechtsstaat die private und öffentliche Autonomie der Person gewährleisten könne.

Ach Gott, was sollten diese lehrbuchhaften Formeln an einem Tage wie diesem? Zudem: Österreich war nie das Land Immanuel Kants. Die Bewunderung für den "bestirnte(n) Himmel über mir" in der "Kritik der praktischen Vernunft" mochte ja noch durchgehen. Doch "die Ehrfurcht […] für das moralische Gesetz in mir" entlockte und entlockt der kakanischen Seele bestenfalls ein ironisches Lächeln.

Die Lebensmaxime dieses Landes waren und sind weder kategorische Imperative noch Normen, die um ihrer selbst willen und aus Pflicht zu befolgen sind. Die Lebensmaxime war und bleibt vielmehr jene des heiter-verlockenden Möglichkeitssinns: "Man wird’s ja wohl noch denken dürfen… man wird’s ja wohl noch probieren dürfen."

An diesem besonderen Tag kam selbst ich mit Kant nicht weiter. Wenngleich ich ihn tief verehre, so gilt die Liebe ohnehin einem anderen, der viel über Eindrücke, Empfindungen und Affekte nachgedacht hat: David Hume. Für Hume sind künstliche Tugenden wie die Rechtsordnung auf Konventionen und impliziten sozialen Übereinkünften gebaut, die sich aufgrund geteilter und auf das allgemeine Wohlergehen gerichteter Interessen ergeben.

Bitte nix Preußisches

Konventionen, an einem Tage wie diesem? Sinnlos. Implizite Übereinkünfte? Bloß nicht. Also doch Kant? Nein, nein, das ging nun wirklich nicht. Denn das Preußische, so sagte ich mir, verträgt dieses Land so ganz und gar nicht. Aber warum eigentlich? Haben die Gründe dafür etwas mit der legendären Feindschaft zwischen Maria Theresia und Friedrich dem Großen zu tun? Oder gar mit Moltke und Königgrätz? Oder ist die höfisch verklausulierte Antipathie einfach nur dem forschen Auftreten der befreundeten Nachbarn und ihrem harten sprachlichen Klang geschuldet?

Letztlich spielte das alles keine Rolle. Es musste, wie mir endlich im Wirrwar der Ideen klar wurde, ja gar nicht Kant sein. Denn der größte Philosoph des Landes hatte ja längst den Weg gewiesen: Regeln sind, wie er in seinen "Philosophischen Untersuchungen" schrieb, nicht nur unabdingbar für Lebensformen, sondern – so sein berühmtes Privatsprachenargument – können gar nicht privat, also nur mit Bezug auf das eigene Ich und seine unmittelbaren Eindrücke, Empfindungen und Absichten formuliert werden.

Hätte, so mein erlösender Gedanke, unser eben zurückgetretener Vizekanzler jemals Ludwig Wittgenstein gelesen, vielleicht wäre ihm gedämmert, dass sein Versuch, die Wünsche, Eingebungen und steilen Ambitionen seines Egos in eine allgemeine politische Regel umzuformulieren, den Test der Regelbildung schon rein konzeptuell nicht bestehen würde.

"So sind wir nicht"

Es war Abend geworden an jenem denkwürdigen 18. Mai 2019 – mein Artikel zu "konservativ?!" war über einige Stichworte nicht hinausgekommen. Ich stand am Ausgang der Nationalbibliothek und blickte, enttäuscht über meine Disziplinlosigkeit, in den weiten Himmel Wiens – hinüber zu den Ausläufern der Hofburg, wo eine in Zeiten von Regierungskrisen verfassungsmäßig mächtige Institution der Republik residiert: der Bundespräsident in seiner Präsidentschaftskanzlei. Was würde er wohl machen und tun?

Auf meinem Handy las ich, der Bundespräsident habe eben eine Pressekonferenz gegeben, in der er von einem desaströsen Sittenbild sprach, das nicht dem Land entspreche: so sei Österreich nun mal nicht. Wovon redete der Bundespräsident? Wie waren seine Aussagen zu verstehen? Während ich noch rätselte, erfuhr ich, dass das Staatsoberhaupt ja eigentlich Folgendes gesagt und gemeint habe:

"Liebe Österreicherinnen und Österreicher, im Grunde genommen gehört dieses Video, das uns so schwere Stunden beschert hat, in den Raum des Virtuellen, also in den Raum jener Möglichkeiten, die nicht die Wirklichkeit sind, wenngleich das alles real ist, aber letztlich doch nur vermeintlich …"

Und genau deshalb lauschten die Österreicherinnen und Österreicher an diesem denkwürdigen 18. Mai ergriffen ihrem Bundespräsidenten. Denn in seiner kaiserlich-väterlichen Bedächtigkeit hatte er sie mit seiner performativen Wunschformel davor bewahrt, sich über die moralische Verfasstheit ihres Landes und seine politische Kultur ernsthaft Gedanken machen zu müssen.

Selbst ein Jahr später habe ich immer noch keine Ahnung, was man zum Thema "konservativ?!" schreiben soll. (Herlinde Pauer-Studer, 15.5.2020)