Empfehlung für die neuen Veröffentlichungen von Moses Sumney, Lucinda Williams und Messer.

Foto: Eric Gyamfi, Danny Clinch, , Moritz Hagedorn

Gebenedeit – Falsche Sau

Der Wiener Schriftstellerin Lydia Haider geht in ihren Texten gern das Geimpfte auf. Es sei vor allem auf den in Buchform erschienenen Gesang "Wahrlich fuck you du Sau, bist du komplett zugeschissen in deinem Leib drin oder: Zehrung Reiser Rosi" verwiesen. Das ist kein Stoff für zarte Gemüter. Mit ihrer "literarisch-liturgischen Band" Gebenedeit setzt Haider nun auch musikalisch auf die Aufarbeitung und Zermerscherung einer soliden christlichen Erziehung. Nach den Fürbitten Die Viren sollen krepieren im April liegt nun ein neues repetitives Meisterwerk zur gegenwärtigen Lage vor: Falsche Sau. "Hör dir an, was eine Erleuchtete zu sagen hat, also mach auf deine Ohren, du Ungläubiger, ich weiß wohl, dass du diese Scharlatane auserkoren hast, dich zu leiten …" Während die Band mit verzerrtem Bass und Blechplattenschlagzeug stur ein Riff herunterdrischt, gibt Haider dazu die durchzuckende Gottseibeiuns-Diva. Sprich: Diamanda Galás lässt ein katholisches Pfarrheim durch die Decke gehen. (schach)

ProblembaerRecords

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Messer – No Future Days

In Münster wird der deutsche Krautrock wenigstens laut Überschrift für abgesagt erklärt: Messer beziehen sich auf ihrem Prä-Corona-Album No Future Days nicht nur auf die Kölner Groove-Monster Can. Ihr eckiger Wave-Rock hüpft prächtig um Sänger Hendrik Otrembas leerstehende Textruinen herum. Die Dub-Bässe federn, die Gitarren-Licks auf den Off-Beats hätte sich womöglich sogar Andy Summers (The Police) ausdenken können. Der Postpunk von 1980 ff. ist eben immer noch nicht zufriedenstellend auserzählt worden. Bis jetzt. (poh)

MESSER

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Heinz Rudolf Kunze – Der Wahrheit die Ehre

Dass Hannovers Antwort auf Herbert Grönemeyer das sinnliche Flair eines Sozialkundelehrers verströmt, muss man ihm nicht anlasten. In seinen lichten Augenblicken dichtet Heinz Rudolf Kunze seit rund 40 Jahren spottlustig wie ein Heinrich Heine, der deutsche Bausparvertragspartner das Fürchten lehrt. Zu Kinks- und Who-informierten Riffs wird auf "Der Wahrheit die Ehre" der Gang der Dinge sarkastisch in Strophenform gebracht: "Ich bin so müde wie die Loreley beim Kämmen / Ich bin so müde wie ein letzter Rolling Stone" – das kann man so stehen lassen. (poh)

Meadow Lake Music

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Moses Sumney – græ

Nachschlag für uns Heulsusen! Der erste Teil von Moses Sumneys neuem Doppelalbum græ, das lose das Thema Isolation umkreist, war ja bereits im Februar erschienen, nun folgt am Freitag der vervollständigende Streich. Der junge, schwer gehypte Amerikaner mit dem distinktiven Falsetto lässt sich nicht lumpen und liefert ganze 20 Titel zwischen Kunst- und Wiegenlied. Da wohnt viel Schmerz, Wut und Liebe, Innigkeit und Verletzlichkeit. Harfen und Saxofone ergänzen räudige Gitarren und zarte Elektronik. Es geht aber nicht um reine Experimentierfreude am Genretopf; der Facettenreichtum in Sumneys künstlerischem Ausdruck spiegelt seine Reise des sich immer wieder Verlierens und Findens wider. Man schwankt beim Hören mit seinen Stimmungen – tut gut weh. (abs)

Moses Sumney

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Perfume Genius – Set My Heart On Fire Immediately

Leid und Glamour hat auch Sumneys Landsmann Mike Hadreas alias Perfume Genius zu den Hauptzutaten seiner Musik gemacht – bei ihm klingt das etwas weniger sperrig. Sein bereits fünftes Album Set My Heart on Fire Immediately wird ebenso am Freitag erscheinen. Es klingt, als würde man auf Schwammerln durch ein Kaleidoskop schauen oder sich zumindest einen Film ansehen, in dem das jemand tut. Ja, wie ein wunderbarer Indiefilm-Soundtrack, ein bisschen verrucht, ein bisschen traurig, schwer verträumt. Und wenn das Cembalo in Jason um die Ecke biegt, ist man bereits hoffnungslos verliebt. (abs)

Perfume Genius

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Johanna Summer – Schumann Kaleidoskop

Mach, was du willst! Nimm jede beliebige existente Musik, aber mach etwas Eigenes daraus, verändere sie richtig! Pianistin Johanna Summer ist auf einem guten Weg, diese Maxime mit Leben zu erfüllen. Sie nimmt sich Stücke von Robert Schumann vor, taucht also einen frühromantischen Duktus in jazziges Gewand. Es wird daraus jedoch nicht der gefürchtete Crossover, vielmehr eine rhapsodische Annäherung an die Klassik mit den Mitteln spontaner Emphase. Virtuos und voller Leichtigkeit wechselt Summer von rasanten Extrapolationen zu pittoresken Stimmungen, etwa bei Knecht Ruprecht – Träumerei. Wenn dabei aus der Improvisation etwa Schumanns Hit Träumerei auftaucht, als Original, um dann im Meer der Verarbeitung zu verschwinden, zeigt sich das Reizvolle dieses Ansatzes. (tos)

ACTMusicOfficial

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Vox Clamantis – The Suspended Harp of Babel

Falls die gegenwärtige Überhäuslichkeit für Sie etwas aushaltbar Meditatives mitbringt und Sie diese Empfindung gar verstärken möchten: Das Ensemble Vox Clamantis haucht auf The Suspended Harp of Babel (ECM) Kompositionen von Cyrillus Kreek, in denen dieser weltliche und geistliche estnische Volkslieder chormäßig verarbeitet hat. Es herrscht eine Atmosphäre der sakralen Verinnerlichung, deren klangliche Klarheit einen Charme versprüht, der selbst Agnostiker ansprechen wird. Zwischen den vokalen Stücken bilden instrumentale Interludes eine Zäsur. Sie helfen jedoch ebenfalls, den meditativen Raum in uns selbst angenehm zu beschallen. Ja, in der Ruhe liegt hier die Kraft! (tos)

Anna-Liisa Eller - Topic

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Goldmund Quartett – Travel Diaries

Das Goldmund Quartett legt ruppig los, stoßweise fetzt es Akkorde raus, pocht, trommelt und tobt. Kein Wunder: Das erste Stück auf Travel Diaries stammt nicht nur vom impulsiven Pianisten Fazıl Say. Es trägt auch den Titel Divorce, handelt also von zwischenmenschlichen Folgen abgekühlter Zuneigung. Das Stück hat natürlich auch Melancholie im Programm, womit das Streichquartett zeigen kann, auch in intimen Passagen nötige Tiefe und Eindringlichkeit einbringen zu können. Florian Schötz, Pinchas Adt, Christoph Vandory und Raphael Paratore legen die CD übrigens zur Gänze zeitgenössisch an. Sie spielen auch Werke von Dobrinka Tabakova (The Smile of the Flamboyant Wings), Wolfgang Rihm (4. Streichquartett), Ana Sokolocic (Commedia dell' arte III) und Bryce Dessner. Dessen Aheym beginnt übrigens ebenfalls ruppig wie Says Scheidungsstück, es ist aber etwas folkloristischer angelegt. (tos)

berlinclassics

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Scott Matthew – Adorned

Der große Mann mit der kleinen Gitarre geht auf seinem am Freitag erscheinenden Album Adorned emotional wieder ins Cinemascope. Scott Matthew aus Australien ist einer der großen Verzweifelten, einer der großen Balladeure, der in ergreifendem Falsett, in triefenden Melodien und einnehmenden Arrangements den Mond für uns anheult, egal wie lässig oder unlässig es gerade ist. Ein zweideutiger Titel wie For Dick penetriert zärtlich perkussiv das Gemüt oder sonst etwas, White Horse trabt unterfüttert von Orgelstößen beseelt durch seine Fantasie und evoziert dort Erinnerungen an den großen Mark Hollis (Talk Talk) ebenso wie an Little Jimmy Scott oder stellenweise Elvis Costello – ohne Scotty mit den dreien messen zu wollen. So es das Virus erlaubt, ist Matthew hierzulande nach dem Sommer zu erleben, und zwar in diesen ausgesuchten Hütten: 29.9., Arge Kultur, Salzburg; 1.10., Porgy & Bess, Wien; 2.10., Posthof, Linz. (flu)

Scott Matthew Music

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Lucinda Williams – Good Souls, Better Angels

Die große Lucinda Williams hat wieder eine durstige Lokaltour durch das US-amerikanische Hinterland gemacht. Dort ist es dem Klischee nach hart, die Kerls noch eine Spur depperter als schon von Geburt her sowieso. Ihre Waffe ist die Gitarre, auf Good Souls, Better Angels ist ihr kein Riff zu dreckig, ihre Band hält grindig und verkatert mit. Die 67-jährige ist in den USA so etwas wie ein weiblicher Tom Waits, wenngleich traditioneller in ihrer Kunst zwischen Rock, Blues und Schweinepriester-Country. Sie ist immer dann am besten, wenn sie ihre Stimme nicht zu expressiv in ihren Geschichten ertränkt. Da wirkt sie oft übertrieben, Overacting heißt das im Film. Dabei hätte sie es nicht notwendig, doch leider ergeht sie sich auf ihrem neuen Album nachgerade exzessiv in diesem Manierismus. In der Übertreibung wird man schnell zur Karikatur. Ein Grenzgang, der auf diesem ziemlich tollen Album nicht immer zu ihren Gunsten ausgeht. (flu, 14.5.2020)

Lucinda Williams - Topic