Am Nordrand ihres Verbreitungsgebiets mussten die Edmontosaurier mit harschen Bedingungen zurechtkommen.
Illustration: Masato Hattori

Es ist immer wieder erstaunlich, welche Parallelen im Verlauf der Evolution zwischen Tiergruppen aufgetreten sind, die zeitlich und verwandtschaftlich weit voneinander entfernt liegen. Eine solche besteht auch zwischen den heutigen Rentieren – in Nordamerika Karibus genannt – und einer Gruppe von Dinosauriern, die 70 Millionen Jahre vor ihnen lebte.

Brückenschlag

Rentiere sind heute zirkumpolar verbreitet, man findet sie in den arktischen Zonen Europas, Asiens und Nordamerikas. Beringia, die eiszeitliche Landbrücke zwischen Sibirien und Alaska, hat ihnen die Ausbreitung auf die Neue Welt ermöglicht – so wie vielen anderen Spezies auch, vom Bison bis zum Menschen.

Diese Landverbindung, die sich im Verlauf der jüngeren Erdgeschichte immer wieder aufbaute und dann wieder abriss, ermöglichte in der Kreidezeit einer ganzen Reihe von Dinosaurierarten die Ausbreitung von Asien nach Nordamerika. Dazu gehörten auch die Edmontosaurier, die die "Karibus der Kreidezeit" hervorbrachten, wie Forscher des Perot Museum of Nature and Science im Fachjournal "Plos One" berichten.

Ein Riesen-Ren

Ganz wie das Rentier war Edmontosaurus ein in Herden lebender Pflanzenfresser – wenn auch deutlich großzügiger dimensioniert: Er konnte 12 bis 15 Meter lang und 4,5 bis 9 Tonnen schwer werden. Fossilien wurden unter anderem am Colville River im Norden Alaskas gefunden. Das Tier war also ein echter Bewohner der Arktis, und in der war es selbst in der warmen Kreidezeit recht frisch – ganz zu schweigen davon, dass dort natürlich auch damals monatelange Polarnacht herrschte.

In einem Punkt übertrafen diese Dinos die Rentiere allerdings: Ihr Verbreitungsgebiet erstreckte sich auch beträchtlich nach Süden, mindestens bis nach Colorado. Anthony Fiorillo vom Perot Museum sieht hier schon eher Parallelen zum heutigen Puma, der von Kanada bis zur Südspitze Südamerikas vorkommt. Außer dem Menschen ist heute kein anderes Großsäugetier so weit über die beiden Amerikas verbreitet.

Als die Lebensräume noch anders aufgeteilt waren

Allerdings waren den Edmontosauriern Grenzen gesetzt, die es heute nicht mehr gibt: In der Kreidezeit war Nordamerika nicht nur noch weit von Südamerika entfernt, es bildete auch selbst keine zusammenhängende Landmasse. Der westliche Teil des Kontinents, in dem die Edmontosaurier lebten, war durch eine Meeresstraße vom Osten getrennt. Dafür hing der Westen dank der Landbrücke von Beringia mit Ostasien zusammen. Dieser nach heutigen Maßstäben kontinentübergreifende Lebensraum wird auch Asiamerica genannt.

Auf beiden Seiten des Pazifiks sah sich die Tierwelt Asiamericas recht ähnlich. Auch Edmontosaurus hatte mit Kamuysaurus japonicus, dessen Überreste in Japan gefunden wurden, einen sehr engen Verwandten. Fiorillo hat die verschiedenen Fossilien zusammen mit japanischen Kollegen von den Universitäten Okayama und Hokkaido untersucht und kommt zum Schluss, dass sich hier analog zum Rentier eine Dinosaurierart annähernd zirkumpolar ausgebreitet hat.

Lumper und Splitter

Ob all die "Kreidezeit-Karibus" in diesem riesigen Verbreitungsgebiet nur einen gemeinsamen Vorfahren hatten oder immer noch eine einzige Spezies bildeten, führt unwillkürlich in die alte akademische Debatte zwischen "Lumpern" und "Splittern". Lumper neigen dazu, möglichst viele Fossilien derselben Art zuzuschreiben. Abweichungen sehen sie als Folge unterschiedlicher Altersstufen, eines Sexualdimorphismus oder schlicht individueller Unterschiede. Splitter hingegen neigen dazu, schon bei geringen anatomischen Abweichungen eine neue Spezies zu postulieren.

Fiorillo und seine Kollegen Ryuji Takasaki und Yoshitsugu Kobayashi stehen offenbar eher auf Lumper-Seite, zumindest in diesem Fall. So kommen sie nach ihren Untersuchungen zum Schluss, dass der 2015 beschriebene Ugrunaaluk aus der Arktis von Alaska einfach nur ein Edmontosaurus sei, und die neue Bezeichnung damit hinfällig. Fiorillo warnt vor der vorschnellen Einführung neuer Spezies – in dem Fall wären die Abweichungen nur auf den Unterschied zwischen Jungtieren und ausgewachsenen Exemplaren zurückzuführen.

Nahrungsverwertung ist Trumpf

Die vielen Fossilien, die sie hinterlassen haben, weisen darauf hin, dass die Edmontosaurier nicht nur weit verbreitet waren, sondern ihre Lebensräume auch in hoher Stückzahl bevölkerten. Sie waren eine evolutionäre Erfolgsgeschichte, und dafür dürfte ein bestimmtes anatomisches Merkmal hauptverantwortlich gewesen sein: Als "Entenschnabelsaurier" hatten sie eine breite, flache Schnauze voller Mahlzähne, mit denen sie die Nahrung vor dem Verschlucken aufbereiten und damit letztlich besser verwerten konnten.

Die wesentlich älteren Sauropoden konnten Pflanzen nur ausrupfen und in großen Brocken runterwürgen. Es dürfte die überlegene Form der Nahrungsaufbereitung gewesen sein, warum die Entenschnabelsaurier die Sauropoden in der Kreidezeit als häufigste Pflanzenfresser ablösten. Erst der Asteroideneinschlag vor 66 Millionen Jahren setzte ihrer Erfolgsgeschichte ein Ende. (jdo, 20.6.2020)