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Obacht! Dieser Titel ist nicht mit Harlan Ellisons Novellenklassiker "Ein Junge und sein Hund" zu verwechseln, auch wenn die Anspielung beabsichtigt gewesen sein mag. Immerhin geht es in beiden Fällen um einen Helden, der mit seinem tierischen Begleiter durch eine postapokalyptische Landschaft zieht. Charlie Fletcher, ein schottischer Drehbuch- und Romanautor, fokussiert aber nicht auf Monster und Mutanten, sondern auf die Menschlichkeit.

Zum Hintergrund

Vor etwas mehr als einem Jahrhundert lief die menschliche Zivilisation in der weichsten aller "weichen Apokalypsen" aus: Es wurden einfach keine Kinder mehr geboren. Nur einer aus einer Million (eigentlich die klassische Terry-Pratchett-Quote ...) behielt seine Fruchtbarkeit, und so blieb zuletzt eine Weltbevölkerung von ganzen 7.000 Menschen übrig. Nach den wenigen Beispielen, die uns der Roman vorstellt, verteilt sich diese Restpopulation noch dazu auf weit verstreute Familiengruppen, der Trend dürfte also langfristig weiter nach unten gehen.

Einer solchen Gruppe gehört Teenager Griz an. Er lebt mit Eltern, Schwester und Bruder sowie – ganz wichtig – seinen beiden Hunden Jip und Jess auf dem Hebriden-Inselchen Mingulay. Man betreibt Landwirtschaft, Fischfang und Tauschhandel mit den weit entfernten Nachbarn im Archipel und ist durchaus glücklich. Vollkommen ist das Idyll freilich nicht: Griz hatte noch eine weitere Schwester, die aber bei einem Unfall gestorben ist. In der darauf folgenden Hektik kam die Mutter zu Sturz und liegt seitdem in einem vegetativen Zustand. Alles in allem aber hat die Familie ihren Frieden gefunden.

Der Störenfried

Mit der Ruhe ist's vorbei, als der jovial auftretende Reisende Brand angesegelt kommt, um ein bisschen Handel zu treiben. Ich-Erzähler Griz, der auf die Geschehnisse aus einer zunächst nicht näher definierten Zukunft zurückblickt und gerne kleine Vorgriffe einbaut, kündigt bereits an, dass der Besuch ein böses Ende nehmen werde. Tatsächlich trickst Brand die Familie aus und setzt sich mit diversem Diebesgut ab – darunter auch Griz' Hündin Jess. Das hätte er besser nicht getan. Denn damit hat er sich einen Verfolger eingehandelt, der seine Unerfahrenheit mit unvergleichlicher Hartnäckigkeit wettmacht. Griz ist wild entschlossen, sich Jess zurückzuholen.

Wir werden Griz als jemanden kennenlernen, der viel mit sich selbst hadert – bei dem einen oder anderen Skrupel, der ihn wegen Nichtigkeiten befällt, habe ich ehrlich gesagt mit den Augen gerollt. Eigentlich ist es also gänzlich untypisch für ihn, dass er sich nun, ohne zurückzublicken oder sich auch nur von seiner Familie zu verabschieden, zusammen mit dem verbliebenen Hund Jip auf Brands Spur setzt. Es ist die vielleicht einzige unüberlegte Tat in Griz' Leben, und sie ändert alles. So schnell kann man aus seinem sicheren Leben herausfallen – und nichts von dem, was man gewusst hat, wird je wieder gleich sein.

Geschichten erzählen

Im Vorwort bittet Charlie Fletcher ausdrücklich darum, nicht zu spoilern, was Griz unterwegs entdecken wird, also beschränke ich mich hier auf ein paar allgemeine Aussagen. Wenn Griz auf der Verfolgung Brands das britische Festland betritt, wird der Roman nach dem dichtgepackten Anfangsteil zunächst um einiges ruhiger. Griz wandert zwischen den Hinterlassenschaften unseres Zeitalters herum, auf die er sich nicht immer einen Reim machen kann. Zu denen, die er nicht versteht, entwickelt er seine eigenen Geschichten – und das ist ein ganz wichtiges Element des Romans: "Ein Junge, sein Hund und das Ende der Welt" ist vor allem eine Reflexion des Geschichtenerzählens an sich.

Griz, der viel gelesen hat, interpretiert die neue Welt gerne durch Bezüge auf Bücher von J.R.R. Tolkien bis John Wyndham. Zudem erinnert er uns immer wieder daran, dass er uns das Geschehen im Rückblick erzählt und sich gegenwärtig offenbar in einer aussichtslosen Situation befindet ("Ich kann niemals nach Hause zurückkehren."). Vor allem aber weiß er, dass eine Erzählung immer auch einen Zuhörer braucht. Dafür hat sich Griz zum Titel passend das Foto eines Jungen mit Hund aus unserem Zeitalter auserkoren, das er in einem verlassenen Haus gefunden hat. In Zwiesprache mit diesem für immer unbekannt bleibenden Du reflektiert Griz über die Unterschiede zwischen dem versunkenen und dem gegenwärtigen Zeitalter. Seine Gedanken sind mal scharfsinnig, mal poetisch, mal auch entbehrlich banal ("Es war der Spitzturm einer Kirche. Ich nehme an, solche Türme wurden so genannt, weil sie spitz aussahen ...").

[An dieser Stelle eine kurze Anmerkung: Zu einer guten Erzählung in gedruckter Form gehört eigentlich auch penible Fehlerausmerzung. Der Roman enthält doch recht viele Vertippser, und nicht alle sind so charmant wie der ungewollt faulige Titel eines Buchs, das Griz findet: "Modernde Münz-Magie"].

Stille Momente

Für das Geschehen außerhalb von Griz' Kopf gilt übrigens ähnliches wie für seine Gedankenwelt: ein bisschen hiervon, ein bisschen davon. Charlie Fletcher, nun erstmals als "C. A. Fletcher" auftretend, hatte zuvor "Stoneheart", eine Fantasy-Trilogie für Kinder, veröffentlicht (die ersten beiden Teile wurden auch ins Deutsche übersetzt). "Ein Junge, sein Hund und das Ende der Welt" zielt auf die nächsthöhere Altersgruppe ab, bleibt aber im etablierten Rahmen von Young-Adult-Literatur und deren gängigen Motiven.

Es sind die berührenden Momente, die den Roman adeln – etwa wenn Griz erzählt, wie sein Vater immer dann, wenn sie ein verlassenes Haus auf der Suche nach Brauchbarem durchsuchten, die Fotos der ehemaligen Bewohner respektvoll zur Wand drehte. Ich habe zwar schon unzählige Postapokalypsen intus, kann mich aber nicht erinnern, das schon einmal gelesen oder gesehen zu haben.

Und dann die große Überraschung

Alles in allem hätte ich "Ein Junge, sein Hund und das Ende der Welt" als tendenziell unspektakulär eingestuft und wohl rasch wieder vergessen .... wäre da nicht dieser Twist am Ende. Ich muss gestehen, den habe ich nicht kommen sehen. Obwohl es im Rückblick natürlich jede Menge Hinweise gab und dieser Twist auch in schönster Weise alles zu einem stimmigen Ganzen verbindet. (Bis auf einen einzelnen Aspekt, den Fletcher vermutlich aus Gründen der Gemütlichkeit ausgespart hat; den könnten wir aber erst diskutieren, wenn alle das Buch gelesen haben.) Höchstwahrscheinlich ist diese unerwartete Wendung auch für das positive Echo verantwortlich, das Fletchers Roman hervorgerufen hat. Selten konnte man die Bedeutung des letzten Eindrucks, den ein Buch hinterlässt, so gut sehen wie hier.