Im Gastkommentar beschreibt Bartosz T. Wielinski, stellvertretender Chefredakteur der polnischen Tageszeitung "Gazeta Wyborcza", wie im Windschatten von Corona das politische Chaos in Polen immer schlimmer wird. Dass die Verfassung mit Füßen getreten wird, sei leider nichts Neues.

Spätabends am Mittwoch der vergangenen Woche, vier Tage vor dem geplanten Wahlsonntag, war klar: Am 10. Mai werden die Polen doch nicht ihren neuen Präsidenten wählen. Diese Entscheidung wurde aber nicht von der obersten Wahlbehörde im Land getroffen und auch nicht vom Parlament.

Der Grund für die Wahlverschiebung ist ein Vertrag, den Polens starker Mann Jarosław Kaczyński, der Vorsitzende der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS), mit Jarosław Gowin, dem Vorsitzenden der Kleinpartei Porozumienie (Die Vereinbarung), unterzeichnet hat. Porozumienie ist Teil der nationalkonservativen Regierungskoalition. Doch weder Kaczyński noch Gowin haben irgendein offizielles Amt inne. Rein rechtlich gesehen, ist der von den beiden unterzeichnete Vertrag irrelevant. Trotzdem ist die polnische Regierung diesem Papier gefolgt und hat die Präsidentschaftswahl abgesagt.

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Polens starker Mann Jarosław Kaczyński, Chef der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS).
Foto: AP / Czarek Sokolowski

Dieses Vorgehen eine "Farce" zu nennen spiegelt den Ernst der Lage nicht wider. Selbst der Vorwurf des Verfassungsbruchs klingt zu milde. Haben doch Kaczyński und seine Gefolgsleute die polnische Verfassung schon mehrmals verletzt. Die Tatsache, dass der Anführer der Regierungspartei gemeinsam mit einem Verbündeten die Wahlen absagt, löst sofort die Assoziation mit einem Staatsstreich aus.

Politisches Chaos

Wir wissen heute, Tage danach, noch nicht, wann und auf welche Weise unser neuer Staatspräsident gewählt werden soll. Inoffiziell geben die PiS-Politiker verschiedene Termine bekannt, sie kündigten Fernsehansprachen an, die dann nicht stattfanden.

Natürlich ist Polen derzeit auch von der Covid-Krise betroffen. Die Todeszahlen liegen bei etwa einem Dutzend Menschen am Tag, die Zahl der Neuinfizierten lag zuletzt bei täglich etwa dreihundert Personen. Doch im Windschatten von Corona wird auch das politische Chaos immer schlimmer.

Der Termin für die polnische Präsidentschaftswahl wurde Anfang des Jahres festgelegt. Vor etwa zwei Monaten, als die Epidemie auch bei uns ausbrach, hätte die Regierung einen Katastrophenzustand ausrufen und dadurch die Wahlen mindestens um vier Monate verschieben können. Der PiS-Vorsitzende Kaczyński lehnte eine solche Lösung strikt ab. Stattdessen forderte er, die Wahlen auch während der Epidemie durchzuziehen.

Denn in einer solchen Situation wäre es für den PiS-Kandidaten und bisherigen Präsidenten Andrzej Duda ein Leichtes, eine zweite Amtszeit zu erkämpfen. Bei einem späteren Wahltermin würden die Menschen die wirtschaftlichen Folgen der von der Epidemie verursachten Krise schon deutlich spüren, und Dudas Chancen auf einen Sieg würden sinken. Nach fünf Jahren PiS-Regierung ist die Staatskasse leer. Durch die Corona-Krise verschärft sich die Situation. Der Staat ist nicht in der Lage, Pleitewellen und eine Explosion der Arbeitslosigkeit zu verhindern.

Verfassungswidrige Briefwahl

Das war wohl der Grund, wieso Kaczyński so lange an diesem Wahltermin am 10. Mai festhielt. Er ließ seine PiS-Abgeordneten sogar das Wahlrecht verfassungswidrig ändern. Mit ihrer Mehrheit im Parlament beschlossen sie, dass die Präsidentschaftswahl nur als Briefwahl durchgeführt werden dürfe und somit die staatliche Wahlbehörde keine Aufsicht auf den Wahlprozess hätte.

Für die Organisation der Wahlen sollte die Regierung zuständig sein, die sogar eine private Firma mit dem Drucken der Wahlkarten beauftragt hatte. Für den Ablauf der Wahlen sollte die staatliche Post zuständig sein. Die Postboten sollten die Wahlkarten nach Hause liefern, die Postkästen wären dann die Wahlurnen.

Ein derart verfassungswidriges Vorgehen ging aber dem kleinen Koalitionspartner der PiS zu weit. Und das ist wohl der Grund, wieso Polen nun nicht wählt. Denn Porozumienie-Chef Gowin drohte, die Regierungskoalition zu verlassen, und so musste Kaczynski die Wahlen einige Tage vor dem Wahltermin absagen lassen.

Mit Füßen getreten

Aber auch das war verfassungswidrig. Die Wahlen dürfen nicht so abgesagt werden. Dass die Verfassung mit Füßen getreten wird, ist leider nichts Neues. Seit 2015, als die PiS in Polen in die Regierung kam, baute sie die polnische Demokratie konsequent ab. Die unabhängige Justiz wurde fast zerstört, die unabhängigen Medien stehen unter großem Druck. Politische Gegner von Kaczyński wurden von Polizei und Staatsanwaltschaft verfolgt. Während dieser Epidemie beschleunigt sich die autoritäre Transformation Polens. Die Allmacht der PiS-Partei scheint nicht zu bremsen zu sein.

Der Verfassungsgerichtshof wird seit langer Zeit vollständig von Kaczyński kontrolliert, der Oberste Gerichtshof wird bald an die kurze Leine genommen. Diejenigen, die es wagen, auf der Straße zu protestieren, müssen mit Verhaftung rechnen. Und die seit langem von der Regierung kontrollierten öffentlich-rechtlichen Medien werden den Bürgern sagen, dass all das rechtens sei.

Es kann sein, dass die nächste Präsidentschaftswahl eine noch größere Farce wird. Ich befürchte, dass in der Coronavirus-Epidemie die polnische Demokratie stirbt. Unsere europäischen Freunde, die so mit dem Kampf gegen die Pandemie beschäftigt sind, würden es kaum merken. (Bartosz T. Wielinski, 14.5.2020)