Immer mehr Menschen fielen in akute Armut, berichtet der obdachlose Alex S.

Foto: vanessa gaigg

Wien – Eines der ersten Dinge, die einem an Alex S. auffallen, sind seine großen Kopfhörer. Sie passen nicht so recht zum restlichen Erscheinungsbild. Man sieht ihm an, dass er seine Kleidung schon tagelang nicht mehr gewechselt haben muss. Als Zweites fällt einem sein breites Lächeln auf, das unter seinem Schnauzer sofort sichtbar wird, wenn er zur Begrüßung ansetzt. Seit 15 Jahren lebt Alex allein auf der Straße. Ein geselliger Typ ist er geblieben.

"Ich liebe Musik", sagt der 48-Jährige. Wenn er im Park sitzt und Metal hört, könne er abschalten, erzählt er. "Das Schlimmste auf der Straße sind das Lügen und das Stehlen." Viermal seien ihm seine Kopfhörer bereits entwendet worden, und zum dritten Mal das Handy. Auch er selbst habe schon gestohlen, vor allem Alkohol.

Vom Tischlern in den Park

Seit etwa zwanzig Jahren ist Alex in Wien, anfangs wohnte er im 19. Bezirk. Der Wertheimsteinpark in Oberdöbling war dann auch der erste Park, in dem er übernachtete. Anfangs hatte er gute Jobs, etwa bei Peter Max, später als Abteilungsleiter bei Obi. Zuletzt arbeitete er drei Jahre lang als Straßenkehrer. "Ein grausamer Job", sagt er. Heute scheint Alkohol eine der wichtigsten Konstanten in Alex’ Leben zu sein. Früher war es einmal das Tischlern. Er erzählt, wie er in Rekordzeit Maßmöbel anfertigen konnte und 50.000 Schilling im Monat verdient habe. Sozialleistungen möchte er nicht in Anspruch nehmen.

Dass Alex in Wien aufschlug, hat viel damit zu tun, warum er auch in der Sucht und später auf der Straße landete. Aufgewachsen ist der 48-Jährige auf einem Bauernhof in Oberösterreich. Die Familie hatte Geld. Seine Kindheit war relativ behütet, als Bub war er ein Reiter und hat voltigiert. Später stieg er auf Gewichtheben um.

Kein Kontakt

Als er 14 war, kam dann die erste von zwei einschneidenden Erfahrungen: Seine Mutter starb an Krebs. "Es war der 23. Dezember, und ich durfte mich nicht einmal von ihr verabschieden", sagt Alex. Man habe ihn damals davor beschützen wollen, durch den Anblick der toten Mutter traumatisiert zu werden. Auch heute, 34 Jahre danach, gerät der sonst redselige Mann beim Erzählen ins Stocken. Zu seinem Vater konnte er nie ein enges Verhältnis aufbauen. "Wenn ich ihn gefragt habe, ob ich 100 Schilling haben kann, hab ich 100 Schilling gekriegt. Wenn ich 1.000 wollte, dann 1.000", sagt er. "Aber sonst war ihm alles egal."

Mit 18 wurde er selbst Vater – doch die Beziehung zu seinen Schwiegereltern war eine Katastrophe. Als er wegen eines Jobs nach Wien ging, riss der Kontakt zur Familie ab. Wie und warum genau, darüber macht er nur Andeutungen: Von den Eltern seiner Frau sei er schlecht behandelt worden, man habe auf den Bauernbuben herabgesehen. Wie er für sein Kind sorgte, sei nicht ausreichend gewesen. Seine Tochter hat er seit 20 Jahren nicht mehr gesehen.

Neue Armut: "Es ist ein Horror"

In den letzten Jahren sei das Klima auf der Straße rauer geworden, meint Alex. Während der Corona-Ausgangsbeschränkunge seien aber ohnehin fast keine Leute mehr unterwegs gewesen, das Schnorren sei fast unmöglich geworden. Neben ihm steht ein Papiersackerl voller Lebensmittel. Der Sozialverein Mut hat ihn gerade damit versorgt. Die Gruppe verteilt auch Hygienetaschen mit Mund-Nasen-Schutz-Masken und Desinfektionsmittel, einmal pro Woche gibt’s eine Duschmöglichkeit. Der Bedarf sei groß.

Jetzt, während der Corona-Krise, sei es für Obdachlose "sehr schwierig", sagt Alex. Er sehe außerdem, dass sich die Situation am Arbeitsmarkt offenbar direkt auswirke, etwa an den vielen Leuten und den langen Schlangen bei Essensausgaben. "Es ist ein Horror", sagt er. Auch das Rote Kreuz berichtet von einem erhöhten Bedarf. Viele Familien würden sich zum ersten Mal an die "Tafeln" wenden.

Das Gleiche ist auch bei der Volkshilfe zu erfahren: An den wöchentlich stattfindenden Ausgabetagen beobachte man Steigerungsraten von 20 bis 25 Prozent. Über den Sommer rechnet man mit einem anhaltenden Trend. Unterstützungsleistungen via Sozialberatung hätten sich seit Ausbruch der Krise verdoppelt. Ebenso die Nachfrage nach Wohnraum: In Volkshilfe-Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe sind keine Plätze mehr vorhanden. Das gelte sowohl für die stationären als auch für die mobil betreuten Einrichtungen. Etwa 22.000 Menschen sind derzeit als obdachlos registriert. Die Bundesarbeitsgemeinschaft für Wohnungslose will Maßnahmen von der Bundesregierung, um den Anstieg an wohnungs- und obdachlosen Menschen zu vermeiden.

Prekärer Gesundheitszustand

Angebote wie Schlafplätze in Einrichtungen nehme er nicht in Anspruch, sagt Alex. Diese wurden in Wien aufgrund der Krise aufgestockt, auch die Öffnungszeiten wurden verlängert. Er selbst schlafe im Sommer im Park, im Winter in seiner "Villa", einem Behindertenklo.

Auf die Frage, was er im Falle einer Corona-Infektion mache würde, sagt er: "Sterben." Sozialarbeiter warnten bereits vor Wochen davor, dass sich unter Obdachlosen eine große Anzahl an potenziellen Risikopatienten befindet. Auch Alex ist sich seines schlechten Gesundheitszustands bewusst. Vor zwei Jahren hatte er einen Schlaganfall. Ein Arzt behandelt den unversicherten Mann regelmäßig. An ihn würde er sich auch wenden, wenn er Symptome hätte. (Vanessa Gaigg, 18.5.2020)