Die Europäische Zentralbank hat schnell auf die Corona-Krise reagiert. Sie wird bis Jahresende 750 Milliarden Euro zusätzliches Geld "schaffen" und damit vor allem Staatsanleihen kaufen. Doch was sind die Konsequenzen der Aktion? Das stand im Zentrum des Interesses bei einem Gespräch mit dem EZB-Direktor Fabio Panetta.

STANDARD: Dürfen Staaten jetzt eigentlich beliebig viel Schulden machen dank der EZB? Die Zentralbank kauft Staatsanleihen auf. Gleichzeitig hat die EU-Kommission jene Regeln, die begrenzen, wie viel neue Schulden ein Staat machen darf, ausgesetzt.

Panetta: Wir erleben gerade einen schweren wirtschaftlichen Schock. Die erste und wichtigste Aufgabe ist es nun, die Produktionskapazitäten in der Eurozone aufrechtzuerhalten. Die Krise trifft starke wie schwache Unternehmen, weil von einem Tag auf den anderen die Einnahmen der Betriebe weggebrochen sind. Da wäre es ein schwerer Fehler, lebensfähige Unternehmen pleitegehen zu lassen und Produktionskapazitäten zu verlieren, die wir für den Aufschwung brauchen. Unsere Geldpolitik verbessert die Finanzierungsbedingungen in allen Bereichen der Wirtschaft, dadurch verstärkt sie die europäischen und nationalen Maßnahmen, die zur Förderung der Wirtschaft ergriffen wurden.

STANDARD: Wann kann die alte Normalität zurückkehren?

Panetta: Um Einstein abzuwandeln: So bald wie möglich, aber nicht früher. Es wäre kontraproduktiv, wenn wir uns nun abmühten, die Wirtschaft am Laufen zu halten, und dann die politische Unterstützung zu früh wieder abschalteten. Was würde geschehen? Das Wachstum wäre sofort wieder weg. Einer der großen Fehler nach der Finanzkrise war ja, dass wir in der Eurozone zu schnell auf eine prozyklische Finanzpolitik umgeschwenkt sind. Ausgaben wurden in der Krise gekürzt, und das ist immer fatal. Diesmal haben aber auch Länder, die bisher sehr konservativ waren, wenn es ums Geldausgeben geht, großzügig reagiert. Ich bin also optimistisch, dass der Euroraum diese Lektion gelernt hat.

STANDARD: Der frühere EZB-Chef Mario Draghi sagt, dass die Staatsschulden als Folge der Krise viel höher sein werden. Das wäre eine der großen Veränderungen. Ist das so?

Panetta: Ja, ich würde zustimmen. Aber ich würde auch erwarten, dass die Zinsen längere Zeit niedrig bleiben werden. Ob ein Land seine Schulden tragen kann, hängt von drei Faktoren ab: von der Höhe der Schulden im Vergleich zur Wirtschaftsleistung, der Wachstumsrate der Wirtschaft und dem Zinsniveau. Auf der einen Seite sind wir also in einer schlechteren Situation, weil die Staatsverschuldung höher sein wird. Zugleich aber gibt es eine Reihe von Faktoren, die die Zinsen in der Zukunft niedrig halten werden. Und diese haben gar nicht nur mit der EZB zu tun.

STANDARD: Welche Faktoren?

Panetta: Da ist allen voran die demografische Entwicklung, die Alterung der Gesellschaften in vielen Industrieländern. Das bringt einen Überschuss an Spareinlagen mit sich und geringeres Potenzial für Innovation. Viele Ökonomen sprechen deshalb von einer säkularen Stagnation: Die Wirtschaft wächst weniger stark, damit sind auch die Inflation und die Zinsen niedriger, weil Kapital weniger nachgefragt wird.

STANDARD: Wie lang geht das gut?

Panetta: Der Pfad in Richtung säkularer Stagnation ist nicht unvermeidbar. Alles hängt davon ab, ob es uns gelingt, das Wachstum anzukurbeln. Wer stärker wächst, kann auch seine Schulden leichter finanzieren.

Fabio Panetta: Jetzt keine Schulden zu machen wäre problematisch.

STANDARD: Der Eurozone gehören 19 Länder an. Was, wenn das Wachstum im Norden zurückkehrt, dort die Inflation steigt, aber nicht im Süden? Die EZB muss Politik für alle machen. Das wäre ein Dilemma.

Panetta: Eine der größten Herausforderungen ist es zu vermeiden, dass der Euroraum nach der Krise größere Unterschiede und regionale Fragmentierung aufweist als vor der Krise. Das ist auch der Grund, weshalb wir eine symmetrische und energische Antwort auf diese Krise brauchen. Nicht aus Solidarität irgendwem gegenüber, das ist eine moralische Kategorie. Sondern wegen unserer engen wirtschaftlichen Verflechtungen. Wenn ein Teil des Eurogebiets in eine langanhaltende Rezession fällt, denken Sie, der Rest könnte sich so weiterentwickeln, als wäre nichts gewesen? Nein. Daher ist es im Interesse aller Länder, die Erholung überall zu sichern und dafür gemeinsam Ressourcen bereitzustellen.

STANDARD: Wie schafft man das, sich gemeinsam zu entwickeln?

Panetta: Aktuell geht es darum, die Wirtschaft zu stabilisieren. Danach kommt eine Phase, in der Investitionen notwendig werden. Ökologie sollte dabei ein Schwerpunkt sein. Einige Länder werden, auch das hat sich gezeigt, in Gesundheitsinfrastruktur investieren müssen. Dann bleibt immer das Thema Innovation und Humankapital – also Bildung. Hier gibt es Strategien, Wachstum mit staatlichen Investitionen in diese Sektoren anzukurbeln.

STANDARD: Müssen eigentlich die zusätzlichen Staatsschulden je abgezahlt werden?

Panetta: Je niedriger die Kosten für den Schuldendienst, umso leichter sind sie zu tragen. Viele bekannte Ökonomen glauben, dass die entwickelten Volkswirtschaften angesichts strukturell niedriger Zinssätze höhere Schulden tolerieren können, ohne eine voreilige Haushaltskonsolidierung. Was zählt, ist, ob die Schulden produktive Ausgaben finanzieren, die zu höherem Wachstum in der Zukunft führen.

STANDARD: Japan hat über 200 Prozent Schulden. Das Land wächst kaum, scheint aber mit diesem Schuldenberg auch kein Problem zu haben.

Panetta: Wenn ein Land Schulden braucht, um Wachstum anzukurbeln, um Innovation zu schaffen, ist es absolut rational, höhere Schulden für produktive Ausgaben zu machen. Aber nicht für immer. An irgendeinem Punkt müssen sich diese Investitionen auszahlen, damit die Schulden durch das ausgelöste höhere Wachstum zurückgezahlt werden können. Ansonsten bekommt der Staat ein Problem.

Die Zinsen werden auf längere Zeit hinaus niedrig bleiben, so die EZB.

STANDARD: Kann aus der aktuellen Situation auch eine Bankenkrise folgen? Die Hotellerie ist massiv getroffen von der Krise – und sehr abhängig von Bankkrediten. Wenn Kreditnehmer massenhaft umfallen, wird es problematisch.

Panetta: Die Banken sind heute widerstandsfähiger als vor zehn Jahren, aber wir können Risiken nicht ausschließen. Wenn es eine längere Rezession gibt, wird das auch den Finanzsektor treffen. Aber im Unterschied zur Finanzkrise ist den Regierungen diesmal weit mehr bewusst, in welche Schwierigkeiten der Finanzsektor kommen kann. Die Länder bieten staatliche Kredithaftungen für Schuldner an. Das soll die Kreditnehmer schützen -sichert aber auch die Banken mit ab. Die Europäische Bankenaufsicht hat diesmal zudem einige Regeln gelockert, damit Banken Unternehmen leichter Kredite geben können und damit unerwünschte prozyklische Kreditvergaberichtlinien vermieden werden. Ein Kreditstopp an den privaten Sektor würde die Turbulenzen noch verschärfen.

STANDARD: Das deutsche Verfassungsgericht hat in einer Entscheidung das EZB-Anleihenkaufprogramm ins Visier genommen. Das Gericht kritisiert, dass die EZB nie erklärt hat, dass ihre Aktionen verhältnismäßig waren.

Panetta: Die EZB fällt nicht unter die Rechtsprechung des deutschen Bundesverfassungsgerichts, sondern unter die des Europäischen Gerichtshofs. Dieser hat 2018 geurteilt, dass die EZB im Rahmen ihres Mandates handelt und das Proportionalitätsprinzip beachtet. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts richtet sich an die deutsche Regierung und den deutschen Bundestag. Und die Bundesbank steht in engem Kontakt mit beiden.

STANDARD: Hat das Gericht die Strategie der EZB verstanden? Das Argument war, die EZB müsse auch andere Effekte ihrer Politik berücksichtigen, Hauspreise, Effekte auf die Sparer.

Panetta: Die EZB hat in der Vergangenheit diese Dinge immer wieder diskutiert, auch in der Öffentlichkeit, einschließlich im Rahmen ihrer Rechenschaftspflicht gegenüber dem Europäischen Parlament. Wir haben also ausgiebig über potenzielle Nebenwirkungen unserer Staatsanleihenkaufprogramme gesprochen. Es gab EZB-Veröffentlichungen dazu und regelmäßigen Austausch mit Parlamentariern.

STANDARD: Das Gericht meinte unter anderem, deutsche Sparer seien potenzielle Verlierer der Geldpolitik gewesen. Ist das so?

Panetta: Nein, meiner Meinung nach war die EZB-Politik von Vorteil für die deutschen wie für die österreichischen Bürger, die zugleich Sparer und Arbeitnehmer sind. Viele Arbeitsplätze, die in den vergangenen Jahren in der Eurozone geschaffen wurden, sind in diesen Ländern entstanden. Diese Staaten sind nach der Finanzkrise besonders kräftig gewachsen. Dadurch ist auch das Einkommen, das gespart werden kann, gestiegen. Dazu hat die EZB einen wichtigen Beitrag geleistet. (András Szigetvari, 14.5.2020)