Der Abgrund zwischen Vertrauen als Hauptwort und als Verb: "Alle wollen Vertrauen, aber niemand will vertrauen."

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Vertrauen, ach. Vertrauen ist flüchtig. Denkt man darüber nach, löst es sich auf. Darauf macht Martin Hartmann aufmerksam, der seit langem anregend über Vertrauen nachdenkt – der Deutsche lehrt an der Universität Luzern Philosophie. Nachdenken gehört nicht zum Vertrauen. Denn zum Vertrauen gehört ein gerüttelt Maß an Gedankenlosigkeit.

Vertrauen, der Faden, der alles zusammenhält, ist eine unsichtbare Macht. Wenn es kritisch in Augenschein genommen wird, beginnt es, seine Wirkmacht einzubüßen. Andererseits ist vorbehaltloses Vertrauen naiv. Und Grund und Auslöser nicht weniger Krisen. Es tut sich ein Abgrund auf zwischen Vertrauen als Hauptwort und als Verb. "Alle wollen Vertrauen, aber niemand will vertrauen."

Wer vertraut, macht sich verletzlich. Es ist eine "Megakategorie", so Hartmann, "an der die politisch-ökonomische Qualität ganzer Gesellschaften hängt". Vertrauen ist für den Deutschen, der sich jedes akademischen Jargons entschlägt, dann interessant, wenn die Option vorhanden ist, eben nicht zu vertrauen. Aufreizend fragt er: "Kann es sein, dass alle das Vertrauen der anderen wollen, weil sie es nicht mehr bekommen?"

Vertrauen und Lüge

Auf einen Zirkelschluss macht er aufmerksam. Auf der einen Seite sind wir daran interessiert, Bedingungen zu schaffen, die wechselseitiges Vertrauen herzustellen möglich machen. Andererseits verhindern wir gerade das Entstehen dieser Bedingungen, weil Bedenken hinsichtlich dessen bestehen, welche Konsequenzen übergroßes Vertrauen haben und erzeugen kann.

Vertrauen, so Hartmann, steht nie für sich selbst. Es ist eingebettet in ein System von Werten und Einstellungen. Diese wirken auf es ein. Vertrauen ist eine Einstellung zum anderen, die Verletzlichkeit aus freien Stücken akzeptiert. "Solange wir keine Hinweise auf begründetes Misstrauen haben, vertrauen wir."

Hartmann trifft eine kluge Unterscheidung zwischen Propaganda-Lüge und offener Lüge. Erstere war das, was bis 1989 die sozialistischen Regimes in Mittelosteuropa in Permanenz verkündeten. Sie gaukelten etwas vor. Das macht die offene Lüge heutzutage nicht mehr. Offene Lügen à la Putin oder Trump legen es nicht mehr auf Verschleierung an. Ihnen ist egal, wenn sie widerlegt werden.

Einmal in der Welt und medial kursierend, zeigen sie eines aggressiv vertrauenszerstörend auf: Es gibt keine "Wahrheit" mehr. Also auch keine Falschheit. Es kann alles gesagt werden. Es geht nur darum, die Verbreitungshoheit zu erringen, verbunden mit entsprechendem narzisstischem Aufmerksamkeitsfaktor.

Ohne moralische Prinzipien

Wahrheit ist zum Ferment eines subjektiven "Realitätswunsches" geworden. So lösen sich die Grundlagen eines zivilgesellschaftlichen Miteinanders auf. Offen Vertrauen zu brechen, durch schamlose Wiederholungen, die die Kritiker ermüden, heißt: ein Machtspiel zu betreiben. Denn der offene Lügner bestimmt die Kategorien, was wahr ist und was nicht.

Er ist kein Immoralist. Moralische Prinzipien erfasst er nicht mehr. Ethische Appelle perlen an ihm ebenso ab wie Kritik oder Empörung. Das elementare Grundvertrauen in eine Beständigkeit der Welt erodiert. Als Mechanismus tritt die schützende Pseudosicherung durch eine autoritäre Figur auf den Plan.

"Anderen nicht vertrauen zu können, aber unter gegebenen Umständen doch vertrauen zu müssen – das könnte die eigentliche Krise des Vertrauens in unserer Gegenwart sein, auch wenn ganz unklar ist, wie das gehen soll." Liefert das existenzielle Vertrauen eine Antwort auf die scheinbare Unausweichlichkeit unseres Vertrauens in vielen Handlungskontexten des Lebens?

Martin Hartmann, "Vertrauen. Die
unsichtbare Macht". 22,70 Euro / 304 S.
S.-Fischer-Verlag, Frankfurt am Main 2020
Cover: S. Fischer Verlag

Das Verblüffende in psychologischer Hinsicht ist, dass sich Vertrauen und Misstrauen nicht ausschließen. Sie koexistieren. Eindeutigkeit ist nicht zu haben. Die Krisendiagnose des Vertrauens ist ein Zirkelschluss. Diese Krise besagt, zur Stärkung unserer individuellen Vertrauensurteile seien die Urteile anderer nötig. Diese bestärken die eigenen. Oder sie werden übernommen, in gutem Glauben, vertrauensvoll.

Transparenz also?

Der Soziologe Georg Simmel meinte einst, der völlig Nichtwissende könne nicht vertrauen, der völlig Wissende dagegen brauche nicht zu vertrauen. Ist Transparenz die Rettung? Transparenz ist eine mögliche Voraussetzung für das Entstehen von Vertrauen. Hartmann argumentiert, dass Transparenz jeden Vertrauensanfang unmöglich machen kann. Je mehr über einen möglichen Vertrauensempfänger vorab bekannt ist, desto geringer das Gespür, diesem zu vertrauen.

Vertrauenswürdigkeit wird durch ein allgemeines Misstrauens- und Unsicherheitsgefühl ersetzt. Hinter Transparenz verbergen sich Kontrolle und Disziplinierung. Transparenz setzt Vertrauen erst voraus. Und doch kann durch sie in asymmetrische Machtkonstellationen Moral einziehen.

Am Ende geht Martin Hartmann auf Politik ein. Vielleicht hat er ja recht, dass, ach, der Vertrauensverlust beidseitig ist, bei der Bevölkerung wie bei den Politikern. (Alexander Kluy, 16.5.2020)