STANDARD: Sie fordern die Veröffentlichung aller Regierungsprotokolle und aller Expertengespräche. Müssen nicht manche Diskussionen vertraulich bleiben, damit die Beteiligten auch offen sprechen können?
Meinl-Reisinger: Ja, das ist eine sehr starke Forderung. Aber das Pendel muss jetzt deutlich in diese Richtung ausschwenken. Wir haben letzte Woche den größten Datenschutzskandal der Zweiten Republik aufgedeckt, wo sensible Daten von Millionen Bürgern im Internet zu finden waren. Auf der anderen Seite ist in der Corona-Krise nicht einmal klar, wie die Regierung ihre Entscheidungen trifft und was Experten sagen.
STANDARD: Muss die Politik nicht Experten anhören, dann aber eine politische Entscheidung fällen?
Meinl-Reisinger: Ja, genauso sehe ich das. Was ich aber kritisiere, ist, dass ganz offensichtlich eine politische Entscheidung getroffen wurde, nicht transparent und auf Augenhöhe mit den Bürgern zu kommunizieren, sondern bewusst eine Politik der Angst zu betreiben. Das geht aus den Protokollen klar hervor. Das hätte es aber gar nicht gebraucht, die Leute sind gescheiter, als die Regierung glaubt.
STANDARD: Haben Sie nach den Bildern aus dem Kleinwalsertal wirklich das Gefühl, dass das mit der Eigenverantwortung gut geklappt hat bei der Bevölkerung?
Meinl-Reisinger: Ich glaube, dass die österreichische Bevölkerung das nicht lernen konnte mit diesen Regierenden. Kurz hat das Bad in der Menge genommen. Das zeigt, wie falsch die Kommunikation der Regierung war, nicht zu sagen: Leute, das Allerallerwichtigste ist Abstand halten. Sondern zu sagen: Erlaubt ist, was wir sagen.
STANDARD: Machen Sie es sich nicht ein bisschen einfach damit, der Regierung für die mangelnde Eigenverantwortung der Leute die Schuld zuzuschieben?
Meinl-Reisinger: Eine verantwortungsvolle Regierungskommunikation bedeutet, die Menschen in so einer Situation zu einem eigenverantwortlichen Handeln anzuleiten. Jetzt kann man sagen, die Maßnahmen und die Kommunikation müssen irgendwie zur Bevölkerung passen, aber Sie werden mir nicht absprechen können, dass ich es für problematisch halte. Immer mehr Leute sagen auch: Moment einmal, behandelt uns nicht wie Kinder und Volldodeln.
STANDARD: Die Neos sind sehr harte Kritiker von Kurz, Nehammer und Anschober in der Corona-Krise. Doch die einzige Rücktrittsaufforderung haben Sie bis jetzt an Kunststaatssekretärin Ulrike Lunacek gestellt. Haben die erwähnten Männer nicht viel schwerwiegende Fehler gemacht?
Meinl-Reisinger: Wir kritisieren die Regierung, sagen aber überhaupt nicht, dass alles falsch gelaufen ist. Wir fordern sehr hartnäckig die besten Lösungen. In der Kulturpolitik gibt es aber keinerlei Dialogbereitschaft.
STANDARD: Der Kanzler hat die Verfassungskonformität als "juristische Spitzfindigkeit" abgetan, Nehammer und Anschober haben der Bevölkerung die Gesetzeslage bei den Ausgangsbeschränkungen anders dargestellt, als sie war. Ist das nicht sehr viel problematischer als ein nicht wahrgenommener Termin bei einem runden Tisch?
Meinl-Reisinger: Wenn Sie mich fragen, ob ich großes Vertrauen in diese handelnden Akteure habe: Nein, das habe ich nicht. Doch im Bereich der Kultur braucht es endlich Lösungen und eine verantwortliche Person, die auch bereit ist, mit diesen Menschen zu reden. Es gibt da kein Vertrauen mehr.
STANDARD: Sie haben in gemeinsamen Oppositionszeiten oft Seite an Seite mit den Grünen für Menschenrechte und Rechtsstaat gekämpft, das schaut jetzt anders aus. Sind Sie enttäuscht, oder war das zu erwarten?
Meinl-Reisinger: Der Befund ist richtig: Ich merke von diesem Eintreten für Rechtsstaat, für Grund- und Freiheitsrechte von den Grünen nichts. Und es ist schon bemerkenswert, wie schnell das abgegeben wurde. Was mich irritiert, ist, dass das moralisch begründet wird. Ich halte das für brandgefährlich. Damit haben sie abgedankt als Partei für Rechtsstaats- und Grund- und Freiheitsrechte.
STANDARD: Ihr Vorgänger plädiert gerade in einer eigenen Fernsehsendung fürs Scheitern. Was ist Ihnen in den letzten Wochen nicht gelungen?
Meinl-Reisinger: Das Scheitern als Kultur ist etwas ganz Wesentliches. Da geht's vor allem darum, dass wir unternehmerischer werden müssen. Ich kann Ihnen ganz, ganz ernsthaft sagen, woran ich gescheitert bin in den letzten Wochen: Kugelbahnen zu basteln mit meinen Kindern, die Merkmale der Lurche zu definieren, Collagen zu basteln. Da gab's täglich eine Dosis Scheitern.
STANDARD: Also kein politisches Scheitern?
Meinl-Reisinger: Nein, ich wüsste nicht, woran. Es gibt viele Dinge, die fordern wir, die passieren halt nicht. Das ist der Alltag der Opposition. Ich wüsste jetzt nicht, wieso ich das als Scheitern betiteln sollte.
STANDARD: Seien Sie ehrlich: Haben Sie sich seit Corona jemals gedacht, "Opposition ist Mist"?
Meinl-Reisinger: Nein, ganz im Gegenteil: Ich habe mir gedacht, Opposition ist notwendiger denn je.
STANDARD: Also die Kickl-Maxime "Opposition ist Pflicht"?
Meinl-Reisinger: Mir ist das völlig wurscht, wer das sonst sagt. Das sage ich, und Opposition und Kontrolle ist ganz wesentlich, gerade in solchen Zeiten.
STANDARD: Ibiza-Gate jährt sich dieser Tage zum ersten Mal. Jetzt ist endlich politische Hygiene in Österreich eingekehrt, oder?
Meinl-Reisinger: Nein, es hat sich genau gar nichts verändert. Da können wir uns bei SPÖ, FPÖ, Liste Pilz und auch der ÖVP bedanken. Alles, was in dem Ibiza-Video angesprochen wurde – intransparente bis hin zu illegaler Parteienfinanzierung –, ist nach wie vor möglich. Die großen Ankündigungen von ÖVP und Grünen wurden bis dato nicht umgesetzt.
STANDARD: Wird Corona die Transparenzbemühungen hemmen?
Meinl-Reisinger: Mit uns sicher nicht. Wir werden da weiter ganz entschieden darauf pochen: sowohl was transparente Parteienfinanzierung angeht, als auch was Kontrolle durch den Rechnungshof angeht, als auch was ein Informationsfreiheitsgesetz angeht. (Sebastian Fellner, 15.5.2020)