Wäre ich für die Institutssicherheit verantwortlich, würde ich hinter dem Chefkoch einen Wachmann mit abgesägter Schrotflinte postieren.

Foto: Philipp Traun

Gezwungenermaßen kommt der Zeitpunkt, an dem der Psychiatriealltag über die Grenzen meiner Anfangsisolation schwappt. Der erste ernst zu nehmende Wirklichkeitsvorfall, der eine olympische Seelenkonstitution voraussetzt, ereignet sich an Tag fünf. Es ist Mittag. Die Essenslieferungen in die Nähe meines Zimmers sind eingestellt. Ich bin aus medizinischer Sicht vollmobil und betrete den Speisesaal am anderen Ende des Areals.

Die Gesichtsausdrücke der Klinikklientel schwanken zwischen Freude, Gier, Zurkenntnisnahme, Resignation, Wut und Ekel. Wäre ich für die Institutssicherheit verantwortlich, würde ich hinter dem Chefkoch einen Wachmann mit abgesägter Schrotflinte postieren, der beim kleinsten Patientenmuckser einen Warnschuss ins Knie abgibt und so dafür sorgt, dass der Anstaltsküche nicht das passiert, was Paris mit den Gelbwesten passiert ist.

Diese Schilderungen sind zweifelsohne übertrieben. Die Wirklichkeit, von der ich gerade noch gesprochen habe, sieht anders aus: In calvinistischer Disziplin stehen die Patienten vom Saaleingang bis zur Speisenausgabenstelle und warten in Einserreihe auf ihre Ration.

Das Essen ist vertretbar, das Küchenpersonal freundlich und bis Betriebsschluss geduldig. Danach jedoch werden die Tröge erbarmungslos durch Panzerglas vom hungrigen Plebs getrennt. Wer zu spät kommt, ist auf israelische Artillerie angewiesen. (Philipp Traun, 16.5.2020)