Im Gastkommentar forder der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell, dass Europa Lehren aus der Corona-Krise ziehen muss.

China hat in den letzten Jahren weltweit an Einfluss gewonnen und die Beziehungen der EU zu China befinden sich im Wandel. Und derzeit wirkt sich die Corona-Krise auf diesen Wandel aus. Die im Wesentlichen bilateralen Beziehungen, in deren Mittelpunkt die wirtschaftliche Zusammenarbeit stand, haben sich in globale Beziehungen gewandelt, bei denen enge Zusammenarbeit mit einer manchmal offenen Konkurrenz Hand in Hand geht. Insgesamt ist die EU in dieser Hinsicht realistischer und selbstbewusster geworden. Parallel dazu hat die Union ihre Zusammenarbeit mit anderen asiatischen Partnern, insbesondere mit Japan, Südkorea, Indien und anderen, intensiviert. China seinerseits hat einen wahrlich beeindruckenden Wandel vollzogen, der jetzt immer mehr geopolitische Auswirkungen hat.

Diplomatische Beziehungen brauchen klare Prinzipien. Europa muss sich gegenüber seinen internationalen Partnern positionieren.
Foto: Imago / Jan Scheunert

Die Beziehungen der EU zu China sind so vielfältig, dass unser Vorgehen nicht auf eine Perspektive reduziert werden darf. In den "EU-China – Strategische Perspektiven" aus dem Jahr 2019, die von allen Mitgliedstaaten der EU unterstützt wurden, wird hervor gehoben, dass China vieles zugleich ist: ein Partnerland, mit dem die EU eng abgestimmte Ziele verfolgt; ein Verhandlungspartner, mit dem sich die EU um einen Interessenausgleich bemühen muss; ein wirtschaftlicher Konkurrent beim Streben nach einer technologischen Spitzenposition; und ein systemischer Rivale, der für alternative Regierungsmodelle wirbt.

Vier Aspekte, eine Strategie

Diese vier Aspekte müssen in eine kohärente Strategie zusammengeführt werden. Zu einem gemeinsamen Vorgehen der EU gegenüber Supermächten zu gelangen ist jedoch nie einfach. Jeder Mitgliedstaat hat oft seine eigenen Standpunkte und Empfindlichkeiten, und die Beziehungen zu China bilden hier keine Ausnahme. China hält sich zudem nicht damit zurück, sich diese Unterschiede manchmal zunutze zu machen. Freilich liegt es hier an uns Europäern, die notwendige Einheit zu wahren. Diese Einheit ist eine Grundvoraussetzung für Einfluss – schließlich kann nicht einmal der größte Mitgliedstaat Einfluss auf eine Supermacht ausüben, wenn er allein steht.

Der Wandel in den Beziehungen der EU zu China hat sich seit dem Ausbruch von Covid-19 beschleunigt, in verschiedenen Phasen. Als in China die Krankenhäuser überlastet waren, hat die EU umfangreiche Unterstützung geleistet, ohne viel Aufhebens darum zu machen. Später, als Europa zum Epizentrum der Pandemie wurde, schickte China in großem Umfang medizinische Ausrüstung und sorgte dafür, dass die Welt dies zur Kenntnis nahm. Der entscheidende Punkt ist, dass wir uns gegenseitig unterstützen und internationale Solidarität zeigen sollten – und die Europäische Union hat immer unter Beweis gestellt, wie sehr sie sich hier in die Pflicht genommen sieht –, dass wir es aber vermeiden sollten, aus solcher Hilfe politisches Kapital zu schlagen.

Weltweite Verantwortung

Dass die globale Corona-Krise eine globale Reaktion erfordert, ist gebetsmühlenartig wiederholt worden. Nichtsdestotrotz ist es die Wahrheit. Wir brauchen eine multilaterale Reaktion auf alle Aspekte der Krise. Denn es gilt die Ausbreitung des Virus einzudämmen, die Forschung nach Behandlungsmethoden und Impfstoffen rasch voranzutreiben, die Auswirkungen in Entwicklungsländern zu bewältigen und die Wirtschaft wieder anzukurbeln. Hierbei erwarten wir von China, dass es seine Rolle gemäß seines globalen Gewichts und seiner weltweiten Verantwortung wahrnimmt.

Wir haben ein gemeinsames Interesse daran, die gefährdeten Menschen in Afrika und andernorts bei der Bewältigung der Pandemie zu unterstützen. Die EU hat gemeinsam mit der Europäischen Investitionsbank (EIB), der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) und den Mitgliedstaaten ein Hilfspaket im Umfang von 20 Milliarden Euro geschnürt, um unsere Partnerländer dabei zu unterstützen, mit diesem Gesundheitsnotstand und den langfristigen Folgen umzugehen. Wir sind uns bewusst, dass mehr erforderlich ist, einschließlich eines erheblichen Schuldenerlasses. Wir wir appellieren an China, hier seinen Teil beizutragen. Ich wünsche mir sehr, Mittel und Wege zu finden, wie die EU und China hier zusammenarbeiten könnten. Eine weitere naheliegende gemeinsame Priorität muss es sein, für eine "grüne Strategie" für die Erholung nach der Krise zu sorgen, bei der die Notrettungspakete genutzt werden, um unsere Energiewende zu beschleunigen und unsere Klimaschutzzusagen gemäß dem Pariser Klimaschutzübereinkommen zu untermauern. Damit wir uns vor künftigen Pandemien besser schützen können, bedarf es außerdem einer umfassenden und unabhängigen wissenschaftlichen Untersuchung des Ursprungs dieser Pandemie.

Unterschiedliche Ansätze

Auf bilateraler Ebene wäre außerdem ein erfolgreicher Abschluss der langjährigen Verhandlungen über ein umfassendes Investitionsabkommen zwischen der EU und China ein wichtiges Zeichen für unser beiderseitiges Engagement für eine regelbasierte Wirtschaftspartnerschaft. In diesem Zusammenhang sollten unsere chinesischen Partner auch ihren Ankündigungen zu Subventionen und Technologietransfers nachkommen.

Sowohl die EU als auch China bekräftigen oftmals ihr Eintreten für den Multilateralismus und die Vereinten Nationen. Dieser Haltung kommt insbesondere in einer Zeit in der das multilaterale System offen in Frage gestellt wird besondere Bedeutung zu. Wir müssen uns jedoch auch darüber im Klaren sein, dass wir in Bezug auf den Multilateralismus durchaus unterschiedliche Ansätze verfolgen. Beispielsweise was die universelle Gültigkeit und Unteilbarkeit der Menschenrechte oder das Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen und die Spannungen im Südchinesischen Meer anbelangt. In Bezug auf den Cyberbereich betonen beide Seiten, dass ein multilateraler Ansatz erforderlich ist, allerdings steht der von China verfolgte staatszentrierte Ansatz im Gegensatz zu dem Ansatz der EU, der auf Achtung der Grundrechte und Grundfreiheiten basiert. Ferner unterstützt China formal sehr stark die Welthandelsorganisation (WTO) und verteidigt deren aktuelle Gestaltung, einschließlich ihres Streitbeilegungssystems, hat aber in der Praxis wenig Bereitschaft gezeigt, bei der eindeutig erforderlichen Reform der WTO mitzuwirken.

Lehren ziehen

Und Europa? Europa muss ebenfalls Lehren aus dieser Krise ziehen. Und einige dieser Lehren betreffen unsere Beziehungen zu unseren internationalen Partnern – und auch zu China. So sollten wir zum Beispiel in strategischen Bereichen eine übermäßige Abhängigkeit vermeiden, indem wir Lagerbestände an kritischem Material aufbauen und unsere Lieferketten verkürzen und diversifizieren.

Da Diplomatie sich am besten auf klare Prinzipien gründet, sollten die Leitworte der EU-China-Beziehungen Vertrauen, Transparenz und Gegenseitigkeit sein. Wir müssen auf Basis einer realistischen Einschätzung der strategischen Ziele Chinas und den Interessen der EU voranschreiten. (Josep Borrell, 15.5.2020)