STANDARD: Sie sind Ärztin, haben ein Buch geschrieben und es unmittelbar vor dem Ausbruch der Corona-Krise auf den Markt gebracht. Was hat Sie in den letzten Wochen am Umgang mit der Infektionsgefahr besonders erstaunt?

Grams: In guten Zeiten sagt man ja oft über die sanfte Medizin "Wenn sie nicht hilft, so schadet sie nicht". Nun sehen wir überdeutlich, dass das nicht stimmt. Wer beispielsweise über die Homöopathie das Vertrauen in die Medizin, die Wissenschaft oder einfach auch die Rationalität verloren hat, der verfällt nun auch leichter den Verschwörungstheorien rund um Corona. Weil einfach eher der Maßstab fehlt: Wie beurteile ich, was stimmt und was nicht, was wirkt und was nicht? Es erstaunt mich, dass das Problem nicht vorher schon deutlich wurde.

STANDARD: Sie waren einmal Alternativmedizinerin. Der Titel Ihres Buches ist: "Was wirklich wirkt". Was genau ist Ihre Position heute?

Grams: Wer krank ist, braucht Hilfe. Das steht außer Frage. Es gibt viele Dinge, die in so einer Situation wirken. Zuwendung ist für Kranke sehr wichtig, aber auch Medikamente oder Therapiemethoden können Beschwerden lindern. Mir geht es darum, zu erklären, was die Medizin unter spezifischer Wirksamkeit versteht, weil ich es für ein wichtiges Prinzip bei der Behandlung von Patienten halte.

STANDARD: Und was genau ist eine spezifische Wirksamkeit?

Grams: Die Sicherheit, dass A, also die Medikamentengabe, mit einer bekannten Wahrscheinlichkeit zu B, der Beschwerdebesserung, führt. Gesundheitsempfehlungen laufen ja oft über Mundpropaganda. Nach dem Prinzip: Was mir hilft, wird schon auch dir helfen. Wenn es sich um eine Erkrankung im Bagatellbereich handelt, ist das auch nicht weiter schlimm. Viele Erkrankungen vergehen ja auch wieder von allein. Doch wenn es um schwerere Erkrankungen geht, ist es wichtig zu wissen, was wirklich, also nachweislich und spezifisch wirkt. Da sollte man nicht allein auf den Faktor Zeit oder die Einzelerfahrung setzen, wie das die Alternativmedizin oft tut. Wir brauchen die Wissenschaft, um herauszufinden, ob A verlässlich und objektivierbar zu B führt.

Natalie Grams ist Ärztin und Buchautorin.
Foto: Robert Newald

STANDARD: Was zählen Sie zu Alternativmedizin?

Grams: Homöopathie, Schüßler-Salze, Bachblüten, weil sich in all diesen Medikamenten meist nicht einmal ein Wirkstoff nachweisen lässt. Wer damit Krankheiten wie Lungen- oder Blasenentzündungen oder sogar Krebserkrankungen behandeln will, bringt sich aktiv in Gefahr. Aber auch vor der Naturheilkunde und dem Einsatz von pflanzlichen Medikamenten würde ich warnen. Pflanzen enthalten zwar Wirkstoffe, doch die Frage ist dann, in welcher Dosierung sie eingenommen werden. Natürlich heißt nicht immer gut und nebenwirkungsfrei. In meinem Buch geht es aber auch um Akupunktur, Osteopathie und Vitaminpräparate.

STANDARD: Anhänger der Naturheilkunde berufen sich oft auf die jahrhundertelange Erfahrung mit Pflanzen.

Grams: Das Alter allein macht ja noch keine spezifische Wirkung. Bei der Naturheilkunde schwingt immer auch mit, dass es sich da um etwas Natürliches, Tradiertes handelt, also etwas Gutes aus der Natur. Doch auch in der Natur gibt es sehr toxische Wirkstoffe, es wäre also trügerisch, zu denken, Naturheilkunde sei immer sanfte Medizin oder automatisch wirksam.

STANDARD: Medikamente wirken, auch wenn kein Wirkstoff enthalten ist: Dieses Faktum kennt auch die naturwissenschaftlich geprägte Medizin und nennt es Placebo-Effekt.

Grams: Wenn sich die Wirkung eines neuen Medikaments beweisen muss, wird es in den klinischen Studien gegen Placebo ausgetestet. Diese Fähigkeit des Menschen, Wirkung zu erleben, wo sie erwartet wird, ist wirklich krass. Der Placebo-Effekt ist keine Einbildung. Er ist ein Effekt, der aus einer positiven Erwartungshaltung entsteht. Ohne wirksame Medizin gäbe es ihn nicht. Da gibt es dieses sehr eindrückliche Beispiel aus dem Ersten Weltkrieg. Weil es keine Narkosemittel gab, wurde nur vermeintlich ein Mittel gespritzt. Zum großen Erstaunen linderte dieses Vorgehen Schmerzen sogar bei Amputationen. Doch ein Placebo-Effekt kann nicht besonders gezielt eingesetzt werden, er schwankt je nach Mensch und Situation. Trotzdem sollten ihn auch naturwissenschaftlich ausgerichtete Mediziner immer mitdenken.

STANDARD: Weil der Placebo-Effekt eine rationale Basis hat?

Grams: Genau. Ich denke, dass er Baustein einer Behandlung ist, die Patienten guttut. Dann erhöht sich auch die positive Erwartungshaltung.

Viele Menschen verlieren über die Homöopathie das Vertrauen in die Medizin, die Wissenschaft oder einfach auch die Rationalität, sagt Natalie Grams.
Foto: imago

STANDARD: Was, denken Sie, fehlt in der sogenannten Schulmedizin?

Grams: Uns Ärzten sollte es ein Anliegen sein, die Selbstfürsorge und Gesundheitskompetenz unserer Patienten zu stärken. Es geht darum, gemeinsam mit Patientinnen und Patienten Konzepte zu entwickeln. Und es kann Situationen geben, in denen man gemeinsam zur Strategie kommt, eine Zeitlang abzuwarten und nichts zu machen. Das wiederum sollten auch die Patienten mittragen. Ich weiß, wie schwer das sein kann. Ich höre oft, dass viele Patienten sich von oben herab behandelt fühlen, hier wünsche ich mir mehr Humanität in der Humanmedizin.

STANDARD: In welchen Fachbereichen sehen Sie Potenzial für die Zukunft?

Grams: Ich denke, dass überall dort, wo es um eine große Zusammenschau von Fachbereichen geht, die Vernetzung besser sein könnte. In der Psychoneuroimmunologie, also dem Zusammenspiel von Psyche, Nerven und der Immunabwehr gibt es viele Bereiche, die noch wenig erforscht sind. Die unterschiedliche Verarbeitung von Reizen könnte auch etwas mit der Genetik zu tun haben. Das muss man sich erst ansehen. Die Wechselwirkungen zwischen Body und Mind sind hochinteressant. Doch es geht darum, hier die Grundlagen auf wissenschaftlicher Ebene zu schaffen. Darin sehe ich eine Aufgabe für die Zukunft.

STANDARD: Wie erkennt man Scharlatane?

Grams: An übervollmundigen Versprechen. Die meisten berufen sich auf die eigenen Erfahrungen, und sie geben oftmals nur sehr vage Angaben darüber, wie ihre Therapie wirkt. Vorsichtig wäre ich auch bei sehr teuren Verfahren ohne Wirkbeleg. Denn gerade Menschen in Not sind oft auch bereit, sehr viel Geld für egal was zu zahlen. Wenn ein Medikament dann nicht wirkt, können die Leute, die es verkauft haben, oft gar nicht verantwortlich gemacht werden.

STANDARD: Warum gibt es diese massive Gegnerschaft zwischen Schulmedizin und Alternativmedizin?

Grams: Weil gute Medizin nun mal leider nicht durch Humbug verbessert werden kann. Unsere Schulmedizin krankt an vielem, gar keine Frage, aber wirkungslose und überteuerte "Alternativen" machen nichts davon besser. Das möchte die Alternativmedizin – allen wissenschaftlichen Fakten zum Trotz – aber nicht so gerne einsehen und kämpft um ihre Pfründe. Auch ganz aktuell sehen wir das. Homöopathie gegen Corona – das kann nur zu einem Disput führen.

STANDARD: Momentan wartet die gesamte Welt auf eine Impfung. Doch seit kurzem melden sich auch wieder die Impfgegner zu Wort. Wird die Corona-Pandemie die Einstellung der Menschen zu den Impfungen ändern?

Grams: Viele Menschen erleben zum ersten Mal, wie eine Welt ohne Impfstoffe gegen gefährliche Krankheiten aussehen würde, und verstehen Impfungen wieder als das, was sie sind: Schutzimpfungen. Aber leider bekommen auch Impfgegner momentan viel Gehör – aus der populistischen und verschwörungstheoretischen Ecke. Wie ich anfangs sagte, hier schließt sich der Kreis der Faktenresistenz und Wissenschaftsleugnung.

Natalie Grams
"Was wirklich wirkt. Kompass durch die Welt der sanften Medizin"
249 Seiten, 18,50 Euro
Aufbau-Verlag
Foto: Aufbau Verlag

STANDARD: Und eine Frage noch an Sie als Ärztin: Was wird die Corona-Pandemie generell verändern?

Grams: Hoffentlich die Gesellschaft zum Positiven, man hält zusammen, unterstützt die Wissenschaft und ihren manchmal so mühevollen Erkenntnisgewinn, lernt daraus für die Zukunft und künftige Bedrohungen – etwa auch den Klimawandel. Beim Blick ins Internet fällt mir diese Hoffnung allerdings oft schwer. Als Ärztin hoffe ich vor allem, dass die Wissenschaft neue Wege der Wissensvermittlung findet, die von den Menschen als nachvollziehbar und entscheidend angesehen werden. Wir brauchen etwas, das wir den vielen Fake-News entgegensetzen können.

STANDARD: Bezugnehmend auf Ihren Buchtitel: Was hilft eigentlich wirklich?

Grams: Der innere Schweinehund hört das nicht gern, aber verkürzt gesagt: alles, was mit Bewegung zu tun hat zum Beispiel. Dazu gibt es Studien und damit Evidenz. Da ist viel Potenzial drinnen, das noch gar nicht ausgereizt ist. (Karin Pollack, 20.5.2020)