Sie vermessen die Republik. Von der Zahl der geschlossenen Ehen über den Verbreitungsgrad von Toiletten und Hunden in Haushalten bis hin zu Todesursachen. Die Statistik Austria erhebt und hütet einen gewaltigen Datenschatz.

Während manche der gesammelten Informationen nur Feinspitze interessieren, sind andere hochpolitisch. Die Entwicklung der Preise im Land, der Bautätigkeit oder des Außenhandels sagt viel über die wirtschaftliche Lage in Österreich aus. Daten zur Sterblichkeit oder aktuell zur Zahl der Corona-Fälle haben sowieso Brisanz. Wer die Infos hat, kann sie bei Bedarf richtig verwerten.

Seit dem 24. März hat sich nach STANDARD-Recherchen die Informationspolitik der Statistik Austria geändert. Pressemitteilungen über neue Erkenntnisse der Statistiker werden am Vortag ihrer Veröffentlichung dem Generalsekretär im Bundeskanzleramts, Bernd Brünner, vorgelegt.

Helmut Kern und Martin Kocher werden ebenso vorab informiert: Kern leitet den Wirtschafts-, Kocher den Statistikrat. Das sind zwei Aufsichtsgremien der Statistik. Der Vorgang ist nicht nur neu in der 20-jährigen Geschichte der Bundesanstalt als eigenständige Institution, sondern auch unüblich.

Denn die Behandlung von Daten ist auf EU-Ebene geregelt, wo ein Verhaltenskodex für sämtliche nationale statistische Ämter existiert. Diesem Kodex hat sich auch Österreich verpflichtet. Dort heißt es zum Thema Unparteilichkeit und Objektivität: Statistische Stellen haben "alle Nutzerinnen und Nutzer gleich zu behandeln" und ihnen "gleichzeitigen und gleichberechtigten Zugang zu statistischen Daten" zu geben. "Jeglicher bevorzugte Vorabzugang an Externe ist beschränkt, stichhaltig begründet, kontrolliert und wird öffentlich bekannt gegeben."

Das richtige Framing

Die Sache ist jedenfalls bei weitem kein Formalakt, sondern politisch hochbrisant. Bekommt ein Regierungspolitiker oder der Regierungschef selbst Informationen vorab, kann er die Daten "framen", wie man im Fachjargon sagt. Ein Minister könnte beispielsweise bei Daten zur Armut einen positiven Randaspekt herauspicken und damit vor der Veröffentlichung in die Medien gehen.

Wenn die Statistik die Mitteilung dann erst einen Tag später publiziert, sei die Kuh schon aus dem Stall und die Aufmerksamkeit nicht mehr so groß, meint jemand, der die Neuerungen in der Anstalt kritisch verfolgt. Die Kurzfassung der Kritiker: Message-Control.

Ist die neue Praxis mit den europäischen Vorgaben überhaupt vereinbar? Sowohl bei der Statistik Austria als auch im Kanzleramt werden die Informationen des STANDARD bestätigt. Beide betonen, in Einklang mit dem erwähnten Verhaltenskodex zu agieren.

Die über 700 Mitarbeiter der Statistik Austria erheben zahllose Daten. Regelmäßig informiert die Statistik die Öffentlichkeit darüber – und seit kurzem vorab das Kanzleramt.
Foto: APA

Eine ausführliche Stellungnahme kommt von der Leitung der Statistik: Wirtschafts- und Statistikrat seien selbst "Organe" der Statistik. Das Bundeskanzleramt sei "Aufsichtsorgan und Eigentümervertreter". Weiters wird darauf hingewiesen, dass die Vorabmitteilungen intern dokumentiert worden seien und unter Hinweis auf Einhaltung der Sperrfrist verschickt wurden. Eine Einflussnahme auf Inhalte oder Zeitpunkte von Veröffentlichungen werde keinesfalls gewährt. Auf der Homepage der Statistik finde sich zudem, wie im Kodex verlangt, ein Hinweis, dass eine "Vorabübermittlung statistischer Ergebnisse in wenigen Fällen erfolgen kann".

Allerdings kann von Einzelfällen keine Rede sein: 31 Pressemitteilungen wurden bisher seit März vorab an das Kanzleramt weitergeleitet, also alle. Dieser Vorgang war bisher öffentlich nicht festgehalten. In der Vergangenheit wurden, wenn, dann nur der fachlich zuständige Minister vorab informiert, etwa wenn es ein Pressegespräch mit Statistikexperten gab.

Das Kanzleramt unter Sebastian Kurz (ÖVP) hat die Aufsicht über die Statistik, ist aber laut Gesetz kein Statistikorgan.

Wer wollte Vorab-Infos?

Und wer hat die neue Politik nun veranlasst? Bei der Statistik Austria verteidigt man sich mit der Darstellung, dass der Wunsch nach Vorabübermittlung vom Chef des Wirtschaftsrats, also Kern, gekommen sei. Die Sache sei vom Chef des Statistikrats Kocher unterstützt worden. Letzterer hat erst im April sein Amt angetreten.

Die neue Vorgehensweise sorgt für Debatten: "Die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit sind das höchste Gut der amtlichen Statistik. Schon der Anschein einer Einflussnahme oder Bevorzugung einzelner Akteure würde das große Vertrauen, das die Statistik Austria genießt, massiv schädigen", sagt Harald Oberhofer, Professor an der WU Wien und Mitglied der "Plattform Registerforschung", die sich für einen besseren Zugang der Wissenschaft zu Statistikdaten einsetzt.

Es ist nicht das erste Mal, dass rund um die ausgegliederte und formal eigenständige Bundesanstalt eine Diskussion entbrennt. Im Februar 2019 wurde bekannt, dass das Kanzleramt eine Reform der Statistik plant. So sollte die Außenkommunikation der Institution näher ans Kanzleramt angebunden werden, eine Reihe von Reformprojekten wurde gestoppt, die Presseabteilung verkleinert. Es folgte ein Aufschrei der Opposition, die vor Message-Control bei den obersten Datenhütern warnte.

Im Kanzleramt verwies man stets darauf, dass es keinerlei Einfluss auf die Kommunikation der Anstalt gibt und geben wird.

Neue Führung

Die Weitergabe der Meldungen wurde unter der interimistischen Leitung in der Statistik begonnen. Diese Woche wurde die neue Führung fixiert: Der Ökonom Tobias Thomas ist der designierte neue fachliche Leiter der Statistik, unter ihm soll ein Neustart gelingen. Die kaufmännische Führung bleibt bei Gabriela Petrovic. (András Szigetvari, Andreas Schnauder, 16.5.2020)