Die Maturantinnen und Maturanten haben den Anfang gemacht. Jetzt folgen die Sechs- bis Vierzehnjährigen dem Ruf des Bildungsministers: Zurück in die Schule!

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Was der Gesunderhaltung der Bevölkerung gedient hat, kann allerdings auch krank machen, so die Kinderpsychologin Martina Zemp im Gastkommentar.

Die Ausgangsbeschränkungen und Schulschließungen im Zuge der Corona-Pandemie stellten und stellen das Familienleben vor immense Herausforderungen. Der Alltag von Kindern und Jugendlichen wird normalerweise durch den Schulbesuch und die Vernetzung im Freundeskreis strukturiert. Diese Alltagsstrukturierung steht seit längerem auf dem Kopf.

Aktuell führen wir an der Universität Wien eine Umfrage mit 14- bis 18-jährigen Jugendlichen und ihren Eltern durch. Mittels Online-Fragebögen wird untersucht, wie sie die Isolation in der Familie erleben. Das Zwischenergebnis ist zweischneidig: Einerseits berichtete eine Mehrheit von Ängsten, Freunde und Familienmitglieder könnten an Covid-19 erkranken. Sie sorgten sich um ihre eigene Gesundheit und die ihrer Eltern und Großeltern. Andererseits berichteten viele von Langeweile und Einsamkeit, weil der übliche Tagesablauf weggebrochen ist. Etwa die Hälfte der Jugendlichen gab zudem an, dass sie sich in letzter Zeit müde und erschöpft fühlten. Gleichsinnig die Klagen besorgter Eltern: Speziell fehle Kindern der geregelte Tagesablauf.

Wenn die Regierung die Schulen wieder öffnet, endet für viele Kinder und Jugendliche ein Ausnahmezustand. Der natürliche Taktgeber Schule, verbunden mit mehr Tages- und Wochenstruktur, tritt wieder auf den Plan. Die Rückkehr aus der familiären Isolation erfolgt jedoch mit sehr unterschiedlichen Erfahrungen.

Nicht nur Zuversicht

Hier lassen sich im Wesentlichen drei Gruppen bilden: Ein Teil der Kinder verbrachte eine überwiegend gute Zeit zu Hause mit Eltern und Geschwistern und kam zurecht mit den Schulaufgaben im Heimunterricht. Diese Schülerinnen und Schüler kehren zuversichtlich in die Schule zurück. Ein anderer Teil litt stark unter den fehlenden sozialen Kontakten zu Gleichaltrigen und freut sich nun umso mehr auf den normalen Klassenunterricht. Die Isolationszeit wird bei ihnen durch die neubeginnende Sozialisationszeit abgefedert, und bleibende Störungen können in der Regel vermieden werden. Einer dritten Gruppe wird der Übergang aber nicht so mühelos gelingen. Diese Kinder erlebten zu Hause viele Konflikte oder kamen mit den Schulaufgaben nicht nach.

Insbesondere die Situation von Kindern aus vorbelasteten Familien hat sich durch die Ausgangsbeschränkungen und die eingeschränkte Außerhausbetreuung teils dramatisch verschärft. Für viele Menschen – Kinder wie Erwachsene – mit psychischen Pro blemen ist der Verlust an Tagesstruktur, sozialen Kontakten und des gewohnten Umfelds eine große Belastung, die eine erhebliche Verschlechterung ihres Befindens zur Folge haben kann.

Im Kindes- und Jugendalter unterteilt man grob in zwei Formen psychischer Probleme: Einerseits gibt es die externalisierenden Störungen, die nach außen gerichtet und daher beobachtbar sind. Typische Beispiele hierfür sind Hyperaktivität, Aggressivität oder sonstige Verhaltensauffälligkeiten, etwa aufsässiges und oppositionelles Verhalten. Davon sind internalisierende Störungsbilder abzugrenzen, die Kinder "in sich" austragen. Dazu zählen beispielsweise sozialer Rückzug, Depressivität oder psychosomatische Beschwerden. Internalisierende Symptome sind von außen weniger sichtbar.

Gewaltiger Rucksack

Es ist bekannt, dass psychisch vorbelastete Kinder durch ein ungünstiges Entwicklungsumfeld besonders starke Nachteile erfahren. In diesem Fall waren es die Isolation und der Wegfall der Tagesstruktur durch die Schulschließungen. Es sind diese Kinder, die jetzt durch Erwachsene, also Eltern und Lehrkräfte, besonders achtsam und duldsam begleitet werden müssen, sowohl schulisch als auch emotional.

Ob die zeitlichen Ressourcen dafür bestehen, ist freilich fraglich: Eltern wie Lehrerinnen und Lehrer haben ja durch den Shutdown ihrerseits einen gewaltigen Rucksack umgehängt bekommen. Entscheidend ist nun, den Kindern Raum für Gespräche mit Gleichaltrigen und Erwachsenen zu geben. In der Schulklasse soll die Isolationszeit im gegenseitigen Erfahrungsaustausch Thema sein. Es geht um nichts weniger als die psychische Gesundheit der Kinder und Jugendlichen, jener Generation, die mit Sicherheit künftig ähnliche gesamtgesellschaftliche Herausforderungen zu meistern haben wird.

Es besteht kein Zweifel, dass die Regierungsmaßnahmen bisher zur Eindämmung der Virusverbreitung geführt haben. Diese Maßnahmen sind allerdings nicht nur aus grundrechtlicher und ökonomischer, sondern auch aus gesundheitspsychologischer Sicht eine Gratwanderung – mit ungewissen Nebenwirkungen. (Martina Zemp, 17.5.2020)