Seine besondere Vorliebe galt unergründlichen Charakteren: Michel Piccoli.

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Michel Piccoli 1983 am Strand von Nizza.

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Es gibt Schauspieler, die verschwinden hinter ihren Rollen. Und es gibt solche, die immer auch auf sich selbst zurückstrahlen. Michel Piccoli gehörte der zweiten Kategorie an. Mit Anmut und Gravität nahm er die Bilder ein und füllte sie aus. Man muss die Selbstverständlichkeit erwähnen, mit der er seinem Spiel nachging: ganz ohne Allüren. Er war ein Statthalter seiner Regisseure, niemals nur deren Erfindung. Die Regisseure würden ihm ihre Geheimnisse übertragen, sagte er einmal in einem Interview.

Seine erste große Hauptrolle spielte er erst 1963 in Jean-Luc Godards Meisterwerk Die Verachtung. Man hat ihn sofort wieder vor sich: das offene Hemd, die Krawatte wie einen Schal um den Hals baumelnd, der Hut, der den markanten Gesichtszügen, vor allem den buschigen Augenbrauen Geltung verleiht. Piccoli spielt einen Autor, der ein Drehbuch über die Odyssee für einen Produzenten umschreiben soll, der damit Geld verdienen will. Ein Film über die Fäulnis des Systems und die Käuflichkeit eines Mannes, der dafür von seiner Frau (Brigitte Bardot) mit Ablehnung gestraft wird. Was für ein Einstieg.

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Richtig nahe zu rücken vermochte man seinen Figuren nie, auch bei diesem Paul Javal gelingt das nicht. Das machte jedoch erst ihren besonderen Reiz aus. Piccolis Figuren bleiben gerne opak, manchmal richtiggehend widerborstig, anders, als man zunächst vermutet hätte. Er wusste stets mehr über die widersprüchlichen Beweggründe der Menschen zu erzählen als über Ziele oder ethische Geradlinigkeit.

Vorteil: nie übertrieben Jung

1925 als Sohn eines Musikerehepaars geboren, spielte Michel Piccoli schon in den 1940er-Jahren Theater, bald darauf übernahm er auch kleinere Rollen im Kino. Aber es dauerte, bis er an die wirklich tragenden Parts herankam. Das hatte dann auch den Vorteil, dass er nie übertrieben jung erscheinen musste, seine Erfahrung auch ausspielen, ja ausstrahlen konnte. Dennoch verkörperte er gerne den virilen Verführer – Männer, die unbeständig waren und doch hartnäckig an etwas glaubten.

Romy Schneider war in dieser Phase Ende der 1960er-, Anfang der 1970er-Jahre seine oftmalige Leinwandpartnerin, meist unter der Regie von Claude Sautet. Im Melodram Die Dinge des Lebens wird die vertrackte Romanze rückwärts erzählt, immer wieder kann man sehen, wie sich das Auto mit Piccoli in Zeitlupe überschlägt und ihm die Zigaretten aus der Hemdtasche purzeln. Piccoli vermochte das Scheitern in Liebesangelegenheiten mit einer Aufrichtigkeit zu spielen, in die sich sanfte Schwermut mischte. Etwas kitschig durfte das ruhig auch sein.

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Einen seiner wichtigsten Regisseure fand er in Luis Buñuel, mit dem er erstmals 1956 in Der Tod in diesem Garten zusammenarbeitete – Piccoli soll auf den Surrealisten früh zugegangen sein. Das Unergründliche, das in ihm wie ein Tier lauerte, konnte er bei Buñuel ausspielen. Von Tagebuch einer Kammerzofe bis Belle de jour offenbarte er ungeahnte Tiefen mit der Furchtlosigkeit eines Schauspielers, der moralische Doppeldeutigkeiten zuließ.

Immer nahe der Anarchie

Sein Faible für das Ungezügelte konnte zur Anarchie auswachsen. In Claude Faraldos Themroc bricht er als frustrierter Arbeiter mit seinem Dasein, mauert sich in der Wohnung ein und lässt auch die Sprache hinter sich – fortan wird gegrölt und gegrunzt. Die Farce blieb nicht die einzige Radikalisierung des eigenen Rollenfachs. Filme wie Das große Fressen feierten die Abkehr von bourgeoisen Feinheiten.

Piccoli war nie weg. Er trat immer wieder in Erscheinung, vermochte in jeder Phase des französischen, ja europäischen Kinos aufs Neue menschliche Sonderbarkeiten auszuloten. Ein besonders plastisches Beispiel für das beginnende Alterswerk war Die schöne Querulantin von Jacques Rivette, in dem er einen Maler verkörperte, der für die Wahrheit seiner Kunst nochmals bereit ist, alles zu riskieren. Da konnte man Piccoli mit höchster Konzentration an kleinsten Details arbeiten sehen.

Seine vielleicht schönste späte Rolle spielte er in Vou para casa (Ich geh nach Hause) des Portugiesen Manoel de Oliveira. Der Film beginnt mit Piccoli in einem Ionesco-Stück auf der Bühne. Dann folgt das wirkliche Leben: eine Tragödie, die Oliveira aber als leichtfüßige Ode an die kleinen Dinge des Alltags inszeniert. Ein Schuheinkauf, Blicke auf den Enkel, Platzrochaden im Café. Miniaturen, kurz vor dem Abschied, um einen der ganz großen Darsteller des Kinos herum inszeniert.

Wie am Montag bekannt wurde, ist Michel Piccoli am 12. Mai im Alter von 94 Jahren an einem Schlaganfall gestorben. (Dominik Kamalzadeh, 19.5.2020)