Die Mund-Nasen-Maske wird wohl noch länger das Erscheinungsbild in Geschäften und öffentlichen Gebäuden prägen.

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Genf/Wien – Die europäischen Staaten sollten sich nach Ansicht der Weltgesundheitsorganisation (WHO) bereits jetzt auf eine zweite tödliche Welle von Coronavirus-Infektionen einstellen. Es sei "Zeit für die Vorbereitung, nicht für Feierlichkeiten", sagte der WHO-Regionaldirektor für Europa, Hans Kluge, der britischen Zeitung "The Telegraph".

Kluge reagierte damit auf die Lockerung von Maßnahmen gegen die Pandemie in mehreren Ländern. Besonders besorgt äußerte sich der WHO-Regionaldirektor über die Möglichkeit einer sogenannten Doppelwelle. "In diesem Fall könnten wir eine zweite Covid-Welle haben und eine saisonale Grippe oder die Masern." Viele Kinder seien nicht gegen die Masern geimpft, warnte Kluge. Die Länder müssten die Zeit nun nutzen, um ihr Gesundheitswesen zu stärken und zum Beispiel die Kapazitäten in Krankenhäusern auszubauen.

Zwar gingen nun auch in den besonders betroffenen Staaten wie Großbritannien, Frankreich und Italien die Fallzahlen zurück, aber das bedeute noch nicht, dass sich die Pandemie dem Ende nähere. Wegen der Corona-Krise hält die WHO ihre zweitägige Jahresversammlung bis Dienstag nur online ab.

WHO weist Vorwürfe zurück

Gesundheitsminister aus der ganzen Welt werden bei der Jahresversammlung der WHO wohl auf eine unabhängige Überprüfung des Umgangs der Weltgesundheitsorganisation mit der Coronavirus-Pandemie drängen. Dem dürften sich Diplomaten zufolge auch China und die USA anschließen, obwohl sie gegensätzliche Ansichten über die Arbeit der WHO geäußert haben. Wie berichtet, warf US-Präsident Donald Trump der WHO vor, zu spät eine Pandemiewarnung abgesetzt zu haben – was die in Genf ansässige Koordinationsbehörde der Vereinten Nationen für das internationale öffentliche Gesundheitswesen zurückwies.

Dennoch kündigte WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus am Montag zum Auftakt der Jahrestagung gleichzeitig an, dass er "zum frühesten geeigneten Zeitpunkt" eine unabhängige Untersuchung der weltweiten Reaktion auf die Pandemie in Auftrag geben werde.

Nachverfolgung essenziell

Auch Österreich beschäftigt sich bereits mit einer möglichen zweite Corona-Welle. Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne) kündigte am Montag eine Detailevaluierung der bisherigen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie und zu den Öffnungsschritten an. Dabei soll dann eine Prognose erstellt werden.

Experten des Beraterstabs der Coronavirus-Taskforce im Gesundheitsministerium sind sich einig, dass weitere Öffnungen nur schrittweise erfolgen können. Bei manchen Themenfeldern gebe es jedoch unterschiedliche Ansichten, so Anschober. Er betonte, dass sich bei dieser Krise "alle miteinander in einem großen Lernprozess" befinden. Bisherige Öffnungsschritte, wie etwa der 1. Mai, an dem die Lockerungsverordnung in Kraft trat, hätten bisher keine Auswirkungen in der gesamtösterreichischen Statistik gezeigt.

"Noch nicht aus dem Schneider"

Der Wiener Reise- und Tropenmediziner Herwig Kollaritsch betonte, dass das Virus seine Eigenschaften nicht verändert hat: "Solange wir nicht völlig frei von Fällen sind, sind wir nicht aus dem Schneider." Eine zweite Welle werde kommen, "wenn wir es nicht schaffen, das Gleichgewicht zu halten". Neuinfektionen müssen kontinuierlich kontrolliert werden, das gehe, solange diese Zahl überschaubar ist. Bei 50, 100 Neuinfektionen pro Tag gebe es die Ressourcen, diese nachzuverfolgen, bei 1000 am Tag "ist es unmöglich". Mit den gesetzten Maßnahmen in Österreich habe man Sars-CoV-2 seine Übertragungsgrundlage nach und nach entzogen, allerdings befinde man sich "in einem unglaublich fragilen Gleichgewicht, das Virus wartet nur darauf, dass wir einen Fehler machen", warnte der Experte.

Zweiter Lockdown "unvorstellbar"

Auch Ärztekammer-Präsident Thomas Szekeres prophezeit, dass die Covid-19-Erkrankungen infolge der schrittweisen Lockerungen wohl wieder ansteigen werden. Mit Blick auf die nächste Grippewelle im Winter wünschte sich Szekeres, dass genügend Impfstoff beschafft und dieser der Bevölkerung auch kostenlos verabreicht werde. "Einen zweiten Lockdown kann ich mir nicht vorstellen", so Szekeres. (APA, simo)