Zukunftsforscher Andreas Reiter: "Selbst Ischgl macht jetzt auf Achtsamkeitstourismus."

Foto: ZTB Zukunftsbüro

Was für eine verrückte Zeit, denkt sich Kathrin und blickt zu ihren beiden Kindern hinüber, die auf der Wiese nebenan zwischen den Kuhfladen herumtollen. Sie sitzt in einer Plexiglas-Box auf der Terrasse einer Salzburger Almhütte, im Distancing-Modus wie die anderen Gäste auch. In ihrem Rucksack steckt ein Corona-Family-Kit (Masken, Desinfektionsgel sowie drei "Covid-19-Passports" – jene Immunitätsausweise, die für Reisen im Schengenraum seit der großen Pandemie verpflichtend sind).

Die Kellnerin wischt gerade den Tisch sauber (der, gesetzlich vorgeschrieben, aus einer nanoseptischen Oberfläche besteht) und stellt dann die Getränke ab. Urlaub in Österreich 2023.

Speisekarten am Smartphone

Ja, Reisen ist nicht mehr so selbstverständlich wie früher und paradoxerweise dennoch einfach. Touristische Attraktionspunkte können nur mit einer App-Reservierung besucht werden, eine Besucherlimitierung ist längst die Norm – ob am Seeufer, im Bike-Park oder im Kindermuseum. First come, first served.

Speisekarten gibt’s nur noch auf dem Smartphone zu lesen. Abstands- und Hygieneregeln bestimmen die Reise des Kunden, Touchless Service, berührungslose Exzellenz heißt die Devise. Künstliche Intelligenz sorgt für smarte Gästelenkung in den Öffis, in den städtischen Einkaufsstraßen und in Museen.

Urlaub auf Staatskosten

Kathrin, alleinerziehende Mutter zweier Kinder, verbringt zum ersten Mal ihren Urlaub in Österreich. Den Ausschlag dafür gab ein Domestic Voucher, eine Art Helikoptergeld, das der Staat für alle Bürger einmalig ausgab, um den Urlaub in Österreich anzukurbeln. Denn die Tourismusdestination ist seit der großen Pandemie immer noch angeschlagen.

Ein dramatischer Strukturwandel hat die Tourismuslandschaft erfasst: Unzählige Betriebe mussten nach dem Re-Start 2020 aufgeben – die ausbleibenden internationalen Gäste, die ausgedünnten interkontinentalen Flugverbindungen, vor allem aber auch die Belegungs- und Hygienevorschriften für Gäste wie Mitarbeiter machten den Unternehmen schwer zu schaffen. So richtig gut geht es nur den alpinen Premium-Destinationen.

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Distancing verändert die Konsum- und Freizeitkultur. Der Mensch in einsamer Natur – das sind die Sehnsuchtsbilder der Postpandemie.
Illustration: Getty Images

Im Familiensegment saugten Wettbewerber wie die Türkei mit extrem günstigen All-inclusive-Packages die Gäste ab, während sich die urbanen Performer auf schwimmenden Pärcheninseln vor Sardinien sonnten.

Der Städtetourismus – lange der Wachstumsmotor nicht nur in Österreich – erreicht erst jetzt wieder das Niveau von 2017, auch ohne die chinesischen Schwärme von früher. Billigflieger wurden zusammengestutzt, das Streckennetz ausgedünnt, und die Austrian ist inzwischen ein kleiner Regional-Carrier mit 50 Flugzeugen.

Sehnsuchtsbilder von damals

Urlaub 2023. Es fühlt sich ein bisschen wie damals an, wie man es von den Urlaubsbildern der Großeltern kennt, denkt Kathrin, während sie mit den Kindern die Alm wieder hinabmarschiert. Ja, auch sie ist mit dem eigenen Auto angereist, sie wohnt mit den Kindern in einem Appartement. Meistens kocht sie selbst für die Familie. Man ist lieber für sich.

Distancing verändert die Konsum- und Freizeitkultur. Der Mensch in einsamer Natur – das sind die Sehnsuchtsbilder der Postpandemie. Ferienwohnungen werden extrem nachgefragt, ebenso der Urlaub im Caravan oder auf Hausbooten. Oder das Zelten im Garten von Freunden.

Coronafreie Zonen

Alles ist reduziert. Angenehm reduziert. Kein Marketing-Chichi mehr, keine ausgetüftelten veganen Aufstriche. Brot und Wein. Ein Weichzeichner liegt über den touristischen Angeboten. Kein Alpen-Ballermann mehr, selbst Ischgl macht jetzt auf Achtsamkeitstourismus.

Wandern in der frischen Luft (ja, das haben die Tourismuswerber verstanden, damit ist gerade jetzt zu punkten), Baden an den (vorreservierten) Seestränden, Biken. Kein Vergleich zum letzten Sommer, denkt Kathrin. Da war sie mit den Kindern an der Adria, in einer EU-zertifizierten "coronafreien Familienzone" (ein Schnäppchen, die Anreise wurde vom italienischen Tourismus-Ministerium gesponsert), und musste bei jedem Strandbesuch durch einen Tunnel, in dem sie mit Desinfizierungsmittel besprüht wurden …

Leben neu schreiben

Sommer 2023. Was für eine verrückte Zeit. Man sieht den Menschen die Anspannung der letzten Jahre an, ständig ein Auf und Ab der Infektionszahlen, da und dort regionale Shutdowns, die Wirtschaft erst jetzt wieder so richtig im Aufwind. Die neue Normalität.

Einen Impfstoff gibt’s erst seit einem halben Jahr – ja, so lange hat die Entwicklung in den Laboren gebraucht, zuerst bekamen ihn die USA ("America first"), dann die heimischen Risikogruppen und die Beschäftigten in den "systemrelevanten" Berufen. Aber nach diesem Urlaub ist auch Kathrin und ihre kleine Familie dran. Und dann, das weiß sie, wird das Leben wieder neu geschrieben.

Eine kleine Vorahnung auf diese unbeschwerte Zeit verspürt sie schon jetzt, auf ihrer Salzburger Alm. Sie genießt das Naturschöne rundum, das Rauschen des Bachs, die Distanz zum Alltag. Sommerurlaub 2023 heißt Reduktion: das stille Glück der Ereignislosigkeit. Jetzt kann sie die Maske endgültig fallenlassen. (Andreas Reiter, RONDO, 24.5.2020)