"Wir leben noch immer in einem konservativen Schul- und Gesellschaftssystem, das vermittelt, dass Technik nichts für Mädchen sein soll", sagt Informatikerin Gerti Kappel.

Foto: Amélie Chapalain/TU Wien Informatics

STANDARD: Homeoffice, Distant Learning, omnipräsente Modellrechnungen: Wir erleben im Schlepptau von Corona eine digitale Transformation, die in ihrem Ausmaß beispiellos erscheint. Ist das etwas, worauf jeder Informatiker, jede Informatikerin gewartet hat?

Kappel: Ich denke, niemand – auch nicht die Informatiker und Informatikerinnen – konnte sich so eine Situation vorstellen, und auch nicht, wie schnell und reibungslos die Umstellung funktioniert hat. Die Technologien waren ja alle bereits vorhanden, nun mussten wir sie uns innerhalb weniger Tage aneignen. Wenn man bedenkt, wie viele Daten allein beim Videostreaming permanent weltweit übertragen werden, ist es schon erstaunlich, wie robust unsere Systeme sind. Aber auch auf gesellschaftlicher Ebene verlief die Umstellung sehr diszipliniert. Und selbst wenn manches nicht immer funktioniert und mit dem Homeschooling die digitale Zweiklassengesellschaft schmerzlich zutage getreten ist: Grosso modo konnte man sich nicht ausmalen, was nun alles möglich ist, also etwa Lehrveranstaltungen mit 500 Studierenden von heute auf morgen in virtuelle Classrooms zu verlegen.

STANDARD: Was wird von diesem Digitalisierungsschub bleiben?

Kappel: Wir erleben gerade ein Realexperiment in noch ungeahntem Ausmaß. Wir müssen uns als Gesellschaft überlegen, ob wir nach Corona wieder zurückgehen wollen dazu, dass wir von einem Meeting zum anderen hetzen, wegen einer Konferenz für einen Tag irgendwohin fliegen oder Frontalunterricht vor Hunderten von Studierenden machen. Wir müssen hinterfragen, wie Wissensvermittlung funktioniert, wie unser Schulsystem aufgestellt ist, wie Kommunikation mit Kindern über Lernplattformen funktionieren sollte. Die Konzepte für computerbasiertes Lernen werden schon lange heruntergebetet, wurden aber bis jetzt nur sehr halbherzig umgesetzt. Ich würde mir wünschen, dass wir nun verstärkt in Richtung Blended Learning gehen (also sowohl online als auch face to face unterrichten) und in Richtung Inverted Classrooms. Das heißt, Schüler und Studierende eignen sich erst Wissen an, etwa mithilfe von Videos, um es dann in kleinen Gruppen in Interaktion mit einem Lehrenden anwenden zu können.

STANDARD: Wird die Krise die Informatikkompetenzen in der breiten Bevölkerung erhöhen?

Kappel: Man muss unterscheiden zwischen informatischen Kompetenzen wie algorithmischem Denken und Digital Literacy, also der Fingerfertigkeit bei der Anwendung der Werkzeuge. Letzteres bleibt sicher erhalten. Die Krise hat aber offensichtlich gemacht, dass es Nachholbedarf bei sozial Schlechtergestellten gibt. Genauso wie die Schulbuchaktion, die Bruno Kreisky erstmals 1970 gefordert hat, müsste nun, 50 Jahre später, eine flächendeckende IT-Aktion für digitale Lernunterstützung, für Laptop- und Tablet-Klassen gesetzt werden.

Die Corona-Krise hat deutlich gemacht, wie sehr wir von Daten und deren Interpretation abhängen. Im Bild die Covid-19-Karte der Johns-Hopkins-Universität (Stand März).
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STANDARD: Datenwissenschafter sind auf einmal nicht nur in der Öffentlichkeit allgegenwärtig, sondern haben auch maßgeblichen Einfluss auf politische Entscheidungen. Könnte das nebenbei auch das Bewusstsein für die Bedeutung der Informatik schärfen?

Kappel: Man sollte die Situation nutzen, um einmal mehr den Stellenwert der Informatik herauszustreichen. Da gibt es noch Luft nach oben. Informatik ist das Rückgrat der Gesellschaft im 21. Jahrhundert, wir hängen am Tropf der Informatik. Wir sehen jetzt, wie Modellbildung und Simulation als reale Entscheidungsgrundlage an Bedeutung gewinnen. Es gibt eine andere Wahrnehmung der Informatik in der wissenschaftlichen Diskussion – mit allen Problemen. Wie wir schon aus der Diskussion um künstliche Intelligenz wissen, kann man aus Daten ganz viel herauslesen, deswegen ist es ja so wichtig, dass viele Expertinnen und Experten aus verschiedenen Disziplinen zusammenarbeiten und die Ergebnisse hinterfragen. Wo es Verbesserungsbedarf zu geben scheint, ist die Zusammenarbeit mit anderen Ländern: Warum gibt es keine konzertierte Vorgangsweise in der EU? Warum erstellt jedes Land seine eigenen Modelle? Eine Lehre aus dieser globalen Pandemie muss sein, dass man es nicht allein schafft.

STANDARD: Sollte auch übrig bleiben, dass (Computer-)Wissenschafter und -Wissenschafterinnen sich mehr Gehör in der Politik verschaffen sollten?

Kappel: Wir haben einen Rat für Forschung und Technologieentwicklung und einen Rat für Robotik und künstliche Intelligenz, in denen Wissenschafter sitzen, wir haben einen Wissenschaftsminister, der aus der Wissenschaft kommt. Nun gibt es das Future Operations Clearing Board, das aus dem Gedanken des wissenschaftlichen Zuarbeitens entstanden ist, um auf künftige Herausforderungen besser vorbereitet zu sein. Ich bin dennoch nicht sicher, ob viel von dieser aktiven Rolle der Wissenschaft übrig bleiben wird. Wie viel Gehör man sich verschaffen kann, hängt auch stark von den politischen Entscheidern ab.

STANDARD: Inwiefern?

Kappel: In Deutschland etwa ist der Zugang ein anderer als hierzulande, es gibt einen breiteren wissenschaftlichen Diskurs, der weniger in eine bestimmte Richtung gelenkt ist, sondern vielmehr faktenbasiert auf Basis des jeweiligen Fachwissens passiert. Wesentlich dafür ist es, dass die Daten zugänglich sind und dass es klare datenschutzrechtliche Regelungen gibt. Ich hoffe jedenfalls sehr, dass das Berechnen von Szenarien in die Zeit nach Corona hinübergerettet wird, dass es eine datenbasierte Diskussionsgrundlage für alle Politikfelder gibt, die auch gefördert und gefordert wird.

STANDARD: Wenn man sich die Corona-Experten ansieht, sieht man fast reine Männerriegen. Der Frauenanteil in der Informatik steigt auch hierzulande kaum – was können Sie als erste Dekanin für Informatik an der TU Wien bewirken?

Kappel: Es wäre naiv zu glauben, dass ich als Einzelperson viel bewirken kann. Aber einfach, dass ich als Frau dastehe, hat Vorbild- und Rollenfunktion. Wir schwanken bei den Informatikstudien zwischen 15 und 20 Prozent Frauenanteil, und das seit 40 Jahren. Die Informatik ist nach wie vor männlich konnotiert, und an den Schulen ist es immer noch nicht schick, dass man Informatik macht. Wir leben noch immer in einem konservativen Schul- und Gesellschaftssystem, das vermittelt, dass Technik nichts für Frauen sein soll. Ich würde mir ein Polytechnikum als Pflichtfach in jeder Schule wünschen, wo gebohrt, geschliffen, gelötet und programmiert wird. Informatik ist nach wie vor nur eine Stunde Pflichtfach in der fünften Klasse.

STANDARD: Die Frauenförderprogramme an den Unis, die Sie mitgeprägt haben, sind also verlorene Liebesmüh?

Kappel: Einerseits ja, aber die Schlussfolgerung, nichts zu machen, wäre fatal. Es ist Aufgabe der Unis, sich bewusst an Mädchen zu wenden und zu vermitteln: "Glaubt nicht, was euch die Gesellschaft sagt. Macht das, was euch interessiert." (Karin Krichmayr, 22.5.2020)