Im Gastkommentar warnt Ökonom Josef Redl davor, dass die ältere Generation durch die Corona-Krise an den Rand der Gesellschaft gedrängt wird. Die Zugehörigkeit zur "Risikogruppe" droht zum sozialen Stigma zu werden.

Erinnert sich noch jemand, wie das Leben der älteren Menschen bis vor kurzem aussah? Zum Beispiel, dass Großeltern eine wichtige Rolle bei der Betreuung ihrer Enkelkinder übernahmen und die Eltern tatkräftig entlasteten? Dass Menschen in Pension sich immer weniger, wie es früher einmal üblich war, damit begnügten, ihr Leben passiv und "taubenfütternd im Park" zu fristen?

Dass die gestiegene Lebenserwartung immer mehr Menschen dazu animierte, sich nach der Pension weiter sinnstiftend zu betätigen, sich also aktiv in die Gesellschaft einzubringen? Dass die Medien im letzten Jahrzehnt voll von Berichten darüber waren, wie Menschen in ihrer dritten Lebensphase ihr Leben bewusst und kreativ in die Hand nahmen und ein "role model" nach dem anderen präsentiert wurde?

Aktiv im Alter – in der Corona-Krise ein Widerspruch.
Foto: APA / Herbert Neubauer

Erfreulicherweise begann sich das Bild der älteren Menschen in den letzten Jahren also stark zum Positiven zu verändern. Und jetzt? Mit einem Schlag, quasi über Nacht, war alles anders, plötzlich und wie in einer Vollbremsung sind "die Alten" zur "Risikogruppe" verkommen, wurden an den Rand der Gesellschaft gedrängt, sollten sich möglichst nicht außer Haus blicken lassen und auch sonst besser unauffällig bleiben. Alles natürlich zu ihrem Schutz und mit dem (verständlichen) Ziel, die Wirtschaft wieder in Gang zu bringen und den Jungen möglichst schnell wieder ihr altes Leben zurückzugeben.

Ein Kollateralschaden

Gut gemeint ist aber bekanntlich oft das Gegenteil von gut. Und so droht das hehre Motiv, Ältere vor einer Ansteckung mit dem Virus zu schützen, angesichts dessen, was über 65-Jährigen in den vergangenen Wochen widerfahren ist, einen Kollateralschaden für ältere Menschen zu zeitigen. Und das aus zumindest folgenden fünf Gründen:

Erstens: Die Corona-Krise hat, wenn man nicht wirksam gegensteuert, großes Potenzial, Ältere gegen Jüngere und Gesundheit gegen Wirtschaft auszuspielen. Sieht man besonders Gefährdete als "Spaß- und Dynamikbremser" für die im Schnitt weniger gefährdeten Jungen an, werden Seniorinnen und Senioren ganz rasch an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Dabei liegt die Gefährdung auch laut dem Altersforscher und Soziologen Franz Kolland von der Universität Wien nicht a priori im Alter, sondern in den Vorerkrankungen. In den USA hat ein republikanischer Politiker sogar gefordert, dass sich die Älteren opfern mögen, um rasch wieder Geschäftswiedereröffnungen zu ermöglichen. Ist dem noch etwas hinzuzufügen?

Geschwächte Widerstandskraft

Zweitens: Die temporäre Isolation der Älteren, sie ist ja noch nicht vorbei, wird auch deren Selbstwertgefühl senken und ihre Widerstandskraft schwächen oder hat es ohnehin schon getan. Das, was in den letzten Jahren an Aufwertung der Rolle der Älteren in der Gesellschaft und an damit verbundener größerer Wertschätzung erreicht wurde, ist also wieder dahingeschmolzen wie Schnee im Oktober. Denn wer ist schon gerne Angehöriger einer "Risikogruppe", anstatt als jemand gesehen zu werden, dessen Lebens- und Berufserfahrungen für die Gesellschaft auch eine große Chance darstellen?

Drittens: Auch was weitere Betätigungsmöglichkeiten – "Freitätigkeit" nach der zur Finanzierung des Lebensunterhalts notwendigen Berufstätigkeit – betrifft, kommen die Älteren nun bei mehr als 570.000 Arbeitslosen Ende April und 1,2 Millionen Anträgen auf Kurzarbeit nun schwer unter die Räder. Wer will Ältere denn jetzt gerne länger beschäftigen oder ihnen eine neue Chance zur Mitarbeit geben, wenn der Arbeitsmarkt ohnehin am Boden ist? Die Chancen auf gesellschaftliche Teilhabe der Älteren, ehrenamtliche Tätigkeiten vielleicht ausgenommen, sind rapide gesunken.

Mehr Teilhabe

Viertens: Verschärft wird dies dadurch, dass die Corona-Krise zu einem deutlichen Digitalisierungsschub geführt hat und weiter führen wird. Und da die digitalen Kompetenzen der Älteren im Schnitt ohnehin nicht zu ihren größten Stärken zählen, ist dies ein weiterer, mehr oder weniger aus dem Nichts aufgetauchter Hemmschuh für eine sinnvolle Integration der Älteren in die Gesellschaft.

Fünftens: Voraussichtlich wird sich – wie für viele Erwerbstätige auch – die Einkommenssituation der bereits in Pension Befindlichen verschlechtern. Wird es in naher Zukunft überhaupt noch Pensionsanpassungen im Ausmaß der Inflationsrate geben? Jedenfalls droht die reale Gefahr, dass Arbeits- und Pensionseinkommen in den nächsten Jahren noch stärker auseinanderklaffen werden als bisher. Ganz abgesehen davon, dass mit großer Sicherheit zu erwartende Sparpakete zum Abbau der exorbitanten Corona-Schulden ganz gewiss auch Pensionistinnen und Pensionisten treffen werden. Etwas pointiert könnte man sagen, dass es in Zukunft mehr Leute in Pension – vor allem Frauen! – noch stärker nötig haben werden, etwas dazuzuverdienen, der Arbeitsmarkt für diese Gruppe aber deutlich weniger Nebenverdienstmöglichkeiten bereithalten wird als bisher.

Gravierende Auswirkungen

Fazit und Forderung: Politik und Zivilgesellschaft sind mehr als gefordert, die unerwarteten Nebenwirkungen der Corona-Krise für die Alten rasch wieder einzudämmen, sie wieder aus dem Corona-Gefängnis herauszuholen und sie weiterhin, mit Anstand und im eigenen Interesse, an Wirtschaft und Gesellschaft teilhaben zu lassen. Sonst gäbe es vermutlich eine im wahrsten Sinne des Wortes verlorene Generation der Alten, die sich nur mehr unnütz vorkommen und das Gesundheitssystem vielleicht mehr belasten würden als dieses schreckliche, alles auslösende Virus. Abgesehen davon: Würde die Würde der älteren Menschen weiterhin untergraben werden, bliebe das nicht ohne gravierende Auswirkungen auf die Psychohygiene der gesamten Gesellschaft. Will das vielleicht jemand? Nein, davon gehe ich nicht aus. (Josef Redl, 20.5.2020)