Der Kabarettist Hosea Ratschiller schreibt im Gastkommentar, was Kunst kann und dass ihre Relevanz von der Politik in Österreich selten erkannt wird. Von der neuen Staatssekretärin wünscht er sich mehr demokratischen Ehrgeiz. Kulturpolitik könnte in der neuen Normalität sinnstiftende Neuorientierung bieten. In einem weiteren Gastkommentar schreibt Schauspieler Serge Falk, wie ihn Häme und Gehässigkeit gegen die ehemalige Kunst- und Kulturstaatssekretärin Ulrike Lunacek befremden.

Illustration: Felix Grütsch

Mein Name ist Hosea Ratschiller, ich bin 38 Jahre alt und arbeite im Kulturbereich. Das tun alle Menschen, die in Österreich arbeiten. Jeder Winkel dieses Landes ist vermessen, bezeichnet und genutzt. Teile des Nordpols können wir nur vermuten. Aber ganz Österreich ist ein Kulturbereich. Der wird von den Menschen hier nicht nur bewohnt, bewirtschaftet und bespielt. Er wird Tag für Tag von uns allen hergestellt. Auch von Personen ohne Arbeit, Stimme und Papiere. Unsere Kultur ist reich, bunt und böse. Dazu gehören Rechte und Rechtlosigkeiten, das Öffentliche und die Unsichtbarkeit. In Ausnahmefällen findet Kultur auf Bühnen statt. Manchmal nennen wir das dann Kunst. Eine kleine Version davon ist mein Beruf.

Wozu Kunst?

Kunst wird oft und gern unterschätzt. Sie gilt den Reichen als Freizeitvergnügen, den Armen als dekadent. Wer sich mit dieser Auffassung begnügt, riskiert scheinbar wenig. Die Schmälerung der Lebensqualität erfolgt nicht unmittelbar, wenn wir Farbe auf Leinwand einfach nur genießen oder verspotten. Auf Dauer übersehen wir aber viel Brauchbares, wenn wir der Kunst zu wenig zutrauen. Wer auf ein Gemälde blickt, das zwischen 1500 und 1900 in Europa entstanden ist, der sieht vielleicht einen anmutig welkenden Blumenstrauß. Aber gleichzeitig schauen wir dem Fortschritt vom Untertanen zum Bürger ins Auge, nämlich in unser eigenes. Selbstbehauptung ist schwer denkbar ohne Zentralperspektive. Das wusste die Kunst lange vor der Wissenschaft. Und das ist nur ein Beispiel.

Kunst kann sehr viel. Sie nützt alles, was wir über den Menschen wissen, um ihm etwas zu erzählen. Eine Erzählung ist etwas anderes als ein Geschäft. Ein Publikum ist etwas anderes als eine Kundschaft. Das Leben ist etwas anderes als ein Algorithmus. Wenn wir diese Unterschiede nicht aus den Augen verlieren wollen, brauchen wir die Kunst. Sie verbindet unsere Fähigkeit zu fühlen mit unserer Fähigkeit zu denken. Und dadurch nimmt sie uns die Angst vor beidem.

Die Relevanz der Kunst wird von der Politik selten erkannt. Kunst war längst voll von Aufklärung und Demokratie, da hatten Philosophen noch Panik vor Folter und schmierten ihren Peinigern theoretischen Honig ums Maul. Trotzdem gelten bis heute etwa Niccolò Machiavellis angsterfüllte Schmeicheleien unter politischen Aufsteigern als tragfähige Theorie. Leonardo da Vincis revolutionäre Bilder hingegen lässt man auf dem Weg nach oben unbeachtet im Museum hängen. Auch Gedankenlosigkeit ist Teil unserer Kultur.

Die neue Normalität

Meine letzte Premiere war vor acht Monaten, seit drei Monaten darf ich nicht mehr auftreten. In dieser Zeit wurden 21 Vorstellungen abgesagt, ich hatte zwei bezahlte Aufträge, einer brachte 500 Euro brutto, der andere ist dieser Gastkommentar. Zum Glück schreibe und spreche ich eine Radiokolumne. Meine Miete muss ich also nicht aus Rücklagen bezahlen. Den Rest schon. Das geht noch bis September. Dann geht es nicht mehr. Und mir geht es vergleichsweise gut.

Leistung und Kürzung, das waren bisher die prägenden Erfahrungen meines Berufslebens. Mehr Erfolg für weniger Geld. Mehr Vielfalt trotz weniger Personal. Mehr Output in kürzerer Zeit. Kultur verwalten, das bedeutet, Sparvorgaben zu erreichen. Ich finde das ganz normal. Mir ist wenig anderes begegnet. Und aus den meisten Arbeitswelten hört man Ähnliches. Das gemeinsame Ziel des Kulturbereiches Österreich scheint ein gutes Quartalsergebnis zu sein. Das Land will funktionieren wie ein Unternehmen. Diese schlichte kulturelle Leitidee hat direkt nach Ibiza geführt. Vielleicht bringt uns Corona jetzt auf andere Gedanken. Was ist relevant? Was ist sozial? Wie wollen wir leben?

Eine neue Normalität kündigt sich an. Sinnstiftende Neuorientierung zu organisieren, das könnte tatsächlich eine Aufgabe von Kulturpolitik sein. Aber erst muss natürlich die Krise bewältigt werden. Und Krise ist immer. Finanzkrise, Flüchtlingskrise, Klimakrise, Gesundheitskrise. In Wellen schwemmt der Ausnahmezustand die Demokratie aus den Schlagzeilen. Verdrängung, das kann Österreich richtig gut. So sind wir.

Wer wir sind

Kunst zu ignorieren, das hat in Österreichs Obrigkeit große Tradition. Vor über 200 Jahren schon erklärte sich der Adel für nicht zuständig. Das Großbürgertum sprang in Sachen Kunstförderung ein. Der Höhepunkt von Österreichs Kulturgeschichte, die Wiener Moderne, war ein Privatprojekt, aufgegriffen durch Politik nur in völkischer Hetzpropaganda, die bis heute als Hass auf alles Intellektuelle fortwirkt. Als Michael Köhlmeier den Nachfolgern der Hetzer ins Gesicht sagte "Erwarten Sie nicht, dass ich mich dumm stelle", formulierte er das Bedürfnis einer Minderheit.

Das müsste nicht so sein. Es lässt sich immer alles ändern, hier in unserem Kulturbereich. Weil der ist nämlich eine Demokratie. Ich wünsche mir von der neuen Staatssekretärin demokratischen Ehrgeiz. Dann wird die Kunst folgen. Fluten wir unseren Kulturbereich mit Zeitgenössischem und machen wir es allen Schichten zugänglich. Gebt uns Aufträge und bezahlt sie ordentlich. Wir leben und arbeiten gerne hier. (Hosea Ratschiller, 23.5.2020)