Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) schießt sich regelmäßig auf das Krisenmanagement der Wiener Stadtregierung ein.

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Nicht einmal zehn Minuten braucht man, um die sechshundert Meter vom Bundeskanzleramt bis zum Wiener Rathaus zurückzulegen. Und dennoch erscheinen die rund tausend Schritten, die man dabei zurücklegt, wie eine Reise von einem Universum ins andere. Hüben das türkise Machtzentrum, das bei der Nationalratswahl vergangenen Herbst österreichweit 37,5 Prozent der Stimmen erhielt; drüben die rote Bastion, der bei der Gemeinderatswahl 2015 über 39 Prozent der Wiener Wähler vertrauten.

Besonders seit der Aufkündigung der großen Koalition im Bund pflegen ÖVP und SPÖ eine natürliche Feindschaft. Am deutlichsten tritt diese wechselseitige Animosität bei Scharmützeln zwischen Bund und Stadtregierung zutage – und im von der Corona-Krise geprägten Jahr 2020 erhöht sich das Konfliktpotenzial exorbitant.

Hitziges Duell zwischen Nehammer und Hacker

Denn zum einen wird am 11. Oktober in Wien gewählt: Die ÖVP hofft, dabei erstmals seit 1991 wieder über 20 Prozent der Stimmen in der Bundeshauptstadt zu erreichen und damit die SPÖ vom Thron zu stoßen. Dazu kommt ein weiterer Faktor: Erstmals haben Rot (in der Stadt) und Türkis (im Bund) denselben Koalitionspartner. Die Grünen sitzen in beiden Regierungen und damit zwischen den Stühlen.

Und schließlich wäre da noch die Covid-19-Pandemie, die in einer Millionenstadt wie Wien mit ihrer dichten Besiedelung andere Eindämmungslösungen erfordert als auf dem Land, das politisch tiefschwarz dominiert ist. Genau daran entspann sich in den vergangenen Tagen ein hitziges Duell, in das die anderen Aspekte nicht unwesentlich hineinspielten.

Als Duellanten standen einander Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) und Gesundheitsstadtrat Peter Hacker (SPÖ) gegenüber; ihre Adjutanten gaben die türkise Integrationsministerin Susanne Raab ("Ich will Wien unterstützen") und der rote Bildungsstadtrat Jürgen Czernohorszky ("Die ÖVP soll endlich ihr Wahlkampfgetöse beenden").

Er wolle, sagt Nehammer, "als Innenminister eine Mahnung an die Stadt Wien aussprechen", deren Vorgehen sei zu lasch. Ein Schiedsrichter marschierte nicht ins Feld, auch wenn Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ) von Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) einen Ordnungsruf für dessen Parteikollegen eingeforderte. Der Ruf verhallte ungehört. Denn nur wenige Stunden später zeigte sich Nehammer in der ZiB 2 erneut besorgt über das Geschehen in der Stadt. Wien verbuche aktuell die höchste Zahl an Neuinfektionen pro Tag. Da rund 60 Prozent der Fälle in Wien gemeldet werden, brauche es hier "einen Wellenbrecher", um das Virus und eine mögliche zweite Infektionswelle einzudämmen. Und: Mehr als 3.000 der jemals Erkrankten kamen aus der Hauptstadt – in der Grafik des Gesundheitsministeriums ist das Stadtgebiet darum dunkel eingefärbt. Wien, so der Tenor, sei so etwas wie der "schwarze Peter" der Corona-Bekämpfung.

Eine Frage der Relation

Doch ganz so einfach ist es nicht. Stellt man die Zahlen in Relation zu den Einwohnern, dann fällt die Bilanz in der Bundeshauptstadt nicht so schlecht aus: Auf 100.000 Wiener kommen 160 Erkrankte. Im Bezirk Landeck in Tirol kommen auf die gleiche Personenzahl 2.263 Fälle. Im Salzburger Bezirk St. Johann im Pongau sind es immerhin noch 538,6 Fälle pro 100.000 Einwohner. Dass dies außer Acht gelassen werde, so mutmaßen manche, liege wohl daran, dass diese Ecken Österreichs eben nicht rot geprägt seien – und dort auch kein Wahlkampf anstünde.

Dazu ist man in der Stadtregierung sogar fast ein wenig stolz auf die zahlreichen entdeckten positiven Corona-Fälle, selbst wenn sich diese negativ auf ihre Statistik auswirken. Schließlich sucht man offensiv nach Ansteckungen in gefährdeten Clustern. Besteht der Verdacht auf eine Häufung von Infektionen, wird durchgetestet – wie etwa im Postzentrum Inzersdorf. Dieses Vorgehen wird auch von Teilen des Bundes forciert. "Da solchen Hotspots sofort aktiv nachgegangen wird und sämtliche Kontaktpersonen getestet werden, werden so symptomlose Fälle entdeckt, die in der ersten Phase unentdeckt geblieben wären", heißt es in einem Papier des Staatlichen Krisenschutzmanagements, das dem STANDARD vorliegt. Mit der Ausforschung der Fälle ist es aber nicht getan. In Zusammenhang mit dem Post-Cluster insinuierte Nehammer immer wieder, dass Mitarbeiter der Postverteilerzentren ihre Quarantäne verließen und arbeiten gingen. "Kein einziger solcher Fall ist dem medizinischen Krisenstab oder der Gesundheitsbehörde bekannt", entgegnet ein Hacker-Sprecher.

Keine Polizei zur Quarantänekontrolle

Doch das beruhigt den Innenminister offenbar nicht, Nehammer bietet seine Polizei als Retter Wiens an. Sie könnten die Quarantäne der isolierten Personen kontrollieren. Dies geschehe so bereits in anderen Bundesländern, heißt es vonseiten der Volkspartei.

Im Büro Hacker will man davon nichts hören. Eine lückenlose Kontrolle der Privatpersonen könne es sowieso nicht geben. Rund 9.000 Quarantänebescheide habe die Stadt bisher ausgestellt – man könne nicht vor jedes Haus einen Polizisten stellen. Selbst kontrolliert die Stadt nicht. Aber: Jeder Isolierte muss ein tägliches Gesundheitsupdate abgeben – passiert das nicht, wird jemand vorbeigeschickt. Zudem bleibt man etwa über das Einkaufsservice der Stadt oder die Kummernummer in Kontakt. Im Innenministerium wird das Ausscheren Wiens bei der Quarantäne-Überwachung als eine Art Kontrollverlust wahrgenommen, was man auf türkiser Seite generell nicht so gut verträgt.

Auch auf das überaus nachdrücklich vorgetragene Angebot Nehammers, Polizisten beim Contact-Tracing – also der Rückverfolgung der Infektionskette – beizuziehen, pfeift Wien. Hier ist die Hauptstadt allerdings mit fünf weiteren Bundesländern in bunter Gesellschaft. Wien argumentiert, dass die Exekutive das ganze Prozedere eher verlangsamen würde. Ein Polizist sei nicht mit medizinisch geschultem Personal gleichzusetzen. Im Gegensatz zu den rund 170 Amtsärzten, Mitarbeitern der Gesundheitsbehörde oder Medizinstudierenden wisse ein Beamter nicht, wie er gewisse Antworten werten müsse und wo er genauer nachhaken müsse. Eine polizeiliche Befragung müsste daher sowieso von einem Mediziner kontrolliert werden.

Wettbewerb und Wahlkampf

Nicht zuletzt wegen dieser abschlägigen Reaktionen macht die Regierung Wien zum Thema. Sollte es irgendwann zu einer zweiten Welle mit Schwerpunkt Wien kommen, wird die ÖVP die Ursache wohl im Verhalten der Wiener Verantwortlichen verorten.

Wird der Umgang mit der Coronavirus-Pandemie also zum beherrschenden Wahlkampfthema? Das dementieren ÖVP-Granden auch abseits von TV-Kameras und Mikros energisch. Vielmehr erhält man in Hintergrundgesprächen das Gefühl, es gehe um einen anderen Wettbewerb als die Wiener Wahl: nämlich darum, welches Land die Corona-Pandemie am besten übersteht. Österreich – und damit die türkis-grüne Regierung – ist mit den Maßnahmen weltweit gut unterwegs. Auf einen Spitzenplatz im Ranking ist die ÖVP besonders erpicht. Mit Australien, Neuseeland, Israel, Dänemark, Tschechien und Griechenland will Österreich im Klub der "kleineren, smarten Länder" (Kurz) bleiben, die intensiv kooperieren.

In der Regierung fürchtet man, dass Wien dem – abgesehen von Ischgl – erfolgreichen Corona-Management Kratzer verpasst. Zum Desaster in Ischgl selbst, das nachweislich für eine europaweite Verbreitung des Virus verantwortlich war, ist der Partei hingegen auch zwei Monate später kaum ein Satz zu entlocken. Geht es also doch mehr um die Partei als um die Pandemie? Nehammer muss sich etwa fragen lassen, warum in Protokollen des staatlichen Krisenstabs steht, was er der Wiener Stadtregierung medial ausrichten solle, wie der Neos-Abgeordnete Douglas Hoyos aufgedeckt hat. So hieß es etwa am 2. April, der Innenminister solle die Wiener Initiative, Taxibons an Senioren zu vergeben, in einem Interview mit der Kronen Zeitung als "gefährlich" darstellen. Auch die Schließung der Bundesgärten durch seine Parteikollegin, Landwirtschaftsministerin Elisabeth Köstinger, hinterließ in Wien den Eindruck einer Schikane: Inmitten des strengen Lockdowns wurde der Zugang zu den großen innerstädtischen Grünanlagen blockiert, der Raum zum Spazieren im Freien damit weiter verknappt.

Kein Interesse an App

Im Gegenzug machte Hacker am 5. April Stimmung gegen die "Stopp Corona"-App des Roten Kreuzes – zu einem Zeitpunkt, an dem die Regierung die Technologie offensiv anpries. Diese App werde er sich "sicher nicht herunterladen", erklärte der Wiener Gesundheitsstadtrat trotzig.

Hacker, der neben Gesundheit auch für Sport zuständig ist, war schon früh ein Kritiker der Ausgangsbeschränkungen. Noch am 6. März zeigt er sich überzeugt, dass der für Mitte April geplante Wien-Marathon stattfinden werde. Ein paar Tage später untersagte die Bundesregierung alle Veranstaltungen mit mehr als 100 Teilnehmern indoor und mit mehr als 500 outdoor.

Rotes Wien, konservatives Österreich

Aber womöglich wäre es auch egal gewesen, welche Strategien Bundes- und Stadtregierung konkret gewählt hätten – ein Streit zwischen den beiden Machtsphären war vorprogrammiert. Das liegt an den politischen Gegebenheiten in Österreich: Wien stellt für Konservative und rechte Kräfte seit jeher eine unknackbare Nuss dar. Alle Wiener Bürgermeister der Ersten und Zweiten Republik waren Sozialdemokraten. Der Konflikt zwischen der modernen Großstadt und dem konservativen ländlichen Raum ist in den politischen Diskurs Österreich historisch eingebrannt.

Besonders scharf trat der Antagonismus im Laufe der Ersten Republik zutage. Da Wien im Jahr 1920 durch die Trennung von Niederösterreich den Status eines Bundeslands erhielt, konnten die Sozialisten ihre absolute Mehrheit nutzen, um ein gesellschaftliches Gegenmodell zum Rest Österreichs, der komplett in schwarzer Hand war, zu etablieren. Wien kam dabei die Möglichkeit zugute, eigene Abgaben zur Finanzierung seiner Projekte, etwa der Gemeindebauten, erheben zu können. Bei den Bürgerlichen entfachte die neue Steuerpolitik, die Reiche hart traf, regelrechten Hass auf das rote Wien – die Christlichsozialen ereiferten sich gar über "Steuersadismus".

Zudem galt Wien bei Konservativen als Chiffre für alles Sündige und Anstößige: von der modernen Kunst bis zur Feuerbestattung, die in der Bundeshauptstadt gegen den Widerstand der katholischen Kirche propagiert wurde. "Rettet Wien, wählet christlichsozial" lautete in diesem Sinne die Losung auf einem Plakat. In den Februarkämpfen 1934 wurde das Wiener Experiment von der Dollfuß-Regierung schließlich gewaltsam beseitigt. Diese Erfahrung prägte sich bei den Sozialdemokraten tief ins Gedächtnis ein. Da jedoch die SPÖ in der Zweiten Republik fast durchgehend selbst in der Bundesregierung war, blieb das Schema "rotes Wien gegen schwarzen Bund" nur in Latenz vorhanden. In Zeiten der Opposition (1966–1970; 2000–2006; seit 2017) wird das Muster allerdings sofort aktiviert, um Wiener Sonderwege zu legitimieren – nicht zuletzt deshalb, weil sich die SPÖ darin gefällt, Partei und Stadt in der öffentlichen Wahrnehmung zu einer Identität zu verschmelzen und sich als Schutzherrin Wiens darzustellen.

Stabile linke Mehrheit

Der Konflikt ist nicht nur historisch aufgeladen, sondern lässt sich auch an jüngsten Wahlergebnissen festmachen: Betrachtet man die Ergebnisse der Nationalratswahl 2019 nach Bundesländern, so findet sich nur ein einziger roter Farbtupfer in einem sonst türkisen Österreich: Wien. Bei der Bundespräsidentschaftswahl 2016 drehte ein mit 65,7 Prozent starkes Abschneiden von Alexander Van der Bellen das bundesweite Ergebnis so weit nach links, dass der auf dem Land großteils überlegene FPÖ-Kandidat Norbert Hofer das Nachsehen hatte. Offenbar gibt es in Wien eine stabile linke Mehrheit, wobei es im Lager links der Mitte durchaus zu Verschiebungen zwischen SPÖ und Grünen kommt.

Bewegung ist bei der Wien-Wahl vor allem im rechten Spektrum zu erwarten, wie aus aktuellen Umfragen hervorgeht. Sie prognostizieren einen starken Aufschwung der Wiener ÖVP, die aktuell auf 24 Prozent geschätzt wird – bei der Wahl 2015 stürzte sie auf ein einstelliges Ergebnis (9,8 Prozent) ab. Im Herbst droht dieses Schicksal der FPÖ, die nicht nur Stimmen an die Türkisen, sondern auch an die neue Partei ihres Ex-Chefs Heinz-Christian Strache verlieren dürfte. Die vergangenen Wien-Wahlen lebten vom Duell zwischen SPÖ und FPÖ – das ist angesichts der blauen Schwäche diesmal von vornherein ausgeschlossen. In die Lücke des wichtigsten Herausforderers scheint die ÖVP nun kommunikativ vordringen zu wollen, wie die Wien-Fixierung des türkisen Innenministers nahelegt.

Nicht aufstehen, nicht einschlafen

Die guten Prognosen für die ÖVP sind vor allem auf Kurz und den Wiener Spitzenkandidaten Gernot Blümel zurückzuführen. Nach der Wahlschlappe 2015 übernahm Blümel die Partei, färbte sie von schwarz auf türkis. Blümel verjüngte zudem die Wiener ÖVP machte sie wieder attraktiv für urbane junge Wähler.

Sebastian Kurz saß in jungen Jahren auch im Wiener Gemeinderat und gelangte durch Aktionen wie das "Geilomobil" zu Berühmtheit. Als Bundespolitiker versucht Kurz hingegen mit Attacken auf die rot-grüne Stadtpolitik zu punkten: Die Integration funktioniere nicht, die Sozialleistungen seien zu attraktiv, und in der Früh würde man in Wien nicht rechtzeitig aufstehen. Die giftigen Wortwechsel zwischen Nehammer und Hacker garantieren nun, dass Wien – als Thema – nicht allzu bald einschläft. (Theo Anders, Oona Kroisleitner, Fabian Schmid, 23.5.2020)