Im Frühling, nach dem Ende der Grippesaison, geht die Zahl der Todesfälle in Österreich meist zurück. Durch Corona hat das in diesem Jahr etwas länger gedauert.

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Die Zahl jener Menschen, die in Österreich jährlich an der Grippe sterben, ist eine statistische Berechnung. Denn Influenza-Todesfälle werden lange nicht so beharrlich erhoben, wie es aktuell bei Covid-19 der Fall ist. Die Zahl der Grippetoten ergibt sich aus der Differenz zwischen allen beobachteten Sterbefällen während der Grippezeit und den Todesfällen, die im selben Zeitraum ohne Influenza zu erwarten gewesen wären.

Auch wenn bei Covid-19 Testungen sowie Erkrankungs- und Todesfälle wesentlich penibler erfasst werden, lohnt sich ein Blick auf die unmittelbare Sterblichkeit des aktuellen Jahres. Denn "sie ist eine wichtige Größe und ein Indikator für die Belastung des Gesundheitssystems", sagt Martin Posch vom Zentrum für Medizinische Statistik an der Med-Uni Wien. Um das wahre Ausmaß dieser Pandemie zu beurteilen, wird neben den bekannten Covid-19-Todesfällen auch die Sterblichkeit betrachtet.

Durchschnittlich sterben in Österreich pro Woche rund 1500 Personen. "Die Sterblichkeit schwankt von Jahr zu Jahr sehr, im Winter durch die Grippe, im Sommer durch Hitzeperioden. Ende März gehen die Zahlen mit dem Ende der Grippesaison meist zurück", sagt Posch. Durch Corona war das in diesem Jahr nicht der Fall: Etwa in der Osterwoche sind laut Statistik Austria mehr Menschen gestorben als um diese Jahreszeit üblich – mit 1790 waren es um 16 Prozent mehr Todesfälle als im Durchschnitt der letzten vier Jahre.

Vergleich mit der Grippe

Auch Euromomo attestiert Österreich für die Wochen der Corona-Pandemie eine niedrige Übersterblichkeit. Das vom dänischen Statens Serum Institut betriebene Projekt beobachtet in 24 Ländern, ob es pro Woche mehr Todesfälle gibt, als üblicherweise zu erwarten wären. Es wurde als Frühwarnsystem nach der Influenza-Pandemie 2009 gegründet – in dem Jahr verstarben rund 200.000 Menschen weltweit an der Grippe.

Abbildung 1: Anzahl der Todesfälle nach Alter.

"Es gibt zwar eine geringe Übersterblichkeit, aber selbst in der Gruppe der über 65-Jährigen ist sie nicht sehr hoch (Anm.: siehe Abbildung 1) und liegt insgesamt im oberen Normbereich", sagt Posch und vergleicht: "Wenn wir die wöchentlichen Zahlen mit größeren Grippewellen vergleichen, die wir schon erlebt haben, liegen wir in diesem Jahr noch weit darunter (Anm.: siehe Abbildung 2)." So sind etwa in der starken Influenza-Saison 2016/2017 laut Berechnungen mehr als 4.400 Menschen an den Folgen der Grippe verstorben.

Abbildung 2: Todesfälle gesamt.

Insgesamt sei es zulässig, die Sterblichkeit aus dem aktuellen Jahr wochenweise mit den Jahren zuvor zu vergleichen, sagt Posch. Für Österreich hat das Erich Neuwirth untersucht. Der Statistiker und Mathematiker war vor seinem Ruhestand Leiter des Fachdidaktischen Zentrums für Informatik an der Uni Wien. Um die Übersterblichkeit zu berechnen, geht man von einem Normaljahr aus. "Doch es kommt darauf an, wie man das definiert", sagt Neuwirth. Die Statistikbehörde der Stadt Wien etwa verlautbarte unlängst, in Wien seien trotz Corona nicht mehr Menschen als üblich gestorben. Hier sei man im Normaljahr von einer höheren Sterblichkeit ausgegangen, so Neuwirth. Die Statistik Wien betont dazu, sie gehe "nicht von einer höheren Sterblichkeit, sondern von den tatsächlichen Sterbedaten aus", so Abteilungsleiter Klemens Himpele. Diese Daten werden auf die Bevölkerung normalisiert. Die Statistik Wien hat die Methodik auch online auf dem Blog "Wien 1x1" dargestellt. Der Mortalitätsmonitor wird wöchentlich aktualisiert.*

Was "normal" ist

Neuwirth hat die durchschnittliche Zahl der Todesfälle im Normaljahr hingegen festgelegt, ohne starke Grippewellen aus den Vorjahren miteinzubeziehen, ist dafür aber in der Zeitrechnung weiter zurückgegangen. Was wiederum dazu führt, dass die Ausgangssituation sich ändert. Denn mit zunehmenden Jahren steigt die Gesamtbevölkerungszahl in Österreich, ebenso wie jene der älteren Menschen, die den Hauptanteil an Todesfällen tragen. Neuwirth hat auch das berücksichtigt. Und obwohl die Zahl damit etwas kleiner wurde, bleibt das Fazit gleich: In Österreich gab es durch Corona bisher eine leichte Übersterblichkeit.

Für ein Fazit in Bezug auf die Sterbefälle sei es zu derzeit zu früh, meint etwa der Grazer Public-Health-Experte Martin Sprenger, der bis Anfang April Teil des Beraterstabs zum Management der Corona-Pandemie im Sozialministerium war. Er glaubt, in Österreich werde es am Ende des Jahres nicht mehr Todesfälle geben als in den Jahren 2019 oder 2021. Seine Argumentation: "So ein Virus trifft die, die dem Tod am nächsten sind. Diese Menschen sind nun in Österreich an Corona gestorben anstatt einige Monate später eines natürlichen Todes." Nach der Übersterblichkeit im März und April rechnet Sprenger mit einer Untersterblichkeit in den Monaten danach. Bei einzelnen Grippewellen in der Vergangenheit seien solche Effekte durchaus beobachtet worden (Anm.: etwa auch nach der Grippewelle 2016/2017, siehe Abbildung 2), bestätigt Neuwirth: "Das ist aber nicht immer so. Und für Covid-19 gibt es noch zu wenig Daten, daher kann das derzeit nur eine Hypothese sein."

Auch Posch ist skeptisch: "Ein Österreicher, der das 80. Lebensjahr erreicht hat, hat laut Statistik Austria im Schnitt noch acht Lebensjahre vor sich, eine Frau sogar zehn. Auch bei uns sind Menschen an Covid-19 gestorben, die sonst noch Monate oder Jahre gelebt hätten", sagt er und verweist auf eine Studie von Wissenschaftern der University of Glasgow, die noch nicht von Fachkollegen begutachtet wurde. Demnach verliert ein Mensch, der an Covid-19 stirbt, im Durchschnitt über alle Altersgruppen zehn Lebensjahre, wobei hier auch Vorerkrankungen berücksichtigt wurden. Hinzu komme, so Posch: Auch wer überlebt, leidet oft an einer reduzierten Lebensqualität: "Wenn man älter ist und mehrere Wochen lang beatmet wird, kann das Langzeitfolgen haben." Zudem wisse man noch wenig über mögliche spätere Auswirkungen der Erkrankung.

Fazit am Jahresende

Ob man in den österreichischen Jahresstatistiken einen Covid-19-Effekt sehen wird, steht derzeit aber tatsächlich noch nicht fest. "Da die Übersterblichkeit gering war, kann dies – wenn die Epidemie weiter unter Kontrolle bleibt – auch durch andere Schwankungen wie Grippe- oder Hitzewellen im Laufe des Jahres überdeckt werden", so Posch.

Internationale Daten zeigen, dass die Übersterblichkeit auch innerhalb einzelner Länder extrem unterschiedlich ist. Während sie in Großbritannien im April insbesondere London betroffen hat, sind in der Schweiz in vier Kantonen (Tessin und die Genfersee-Region) überdurchschnittlich viele Tote zu beklagen – in anderen Regionen sind die Zahlen wesentlich niedriger. Das gilt auch für einzelne Bundesländer mit geringen Fallzahlen in Österreich. Dort eine Übersterblichkeit zu berechnen ist statistisch gesehen oft nicht sinnvoll, so Posch: "Wenn die Zahlen sehr niedrig sind, können nur große Effekte von zufälligen Schwankungen unterschieden werden."

Von der Sterblichkeit darauf zu schließen, wie gefährlich Sars-CoV-2 ist, hält Posch jedenfalls für unzulässig: "Denn die Maßnahmen waren sehr erfolgreich", sagt er. Wie viele Menschen ohne sie gestorben wären, wird sich nie abschließend beantworten lassen. Zudem können nicht alle zusätzlichen Todesfälle während der Pandemie auf das Virus zurückgeführt werden. Denn wie Experten immer wieder betonen, haben der Lockdown und die wochenlange Drosselung des Spitalbetriebs zu einer Mangelversorgung in vielen Bereichen geführt. Möglicherweise sind dadurch Menschen an anderen Todesursachen als Corona gestorben, die ansonsten noch am Leben wären.

Folgen auf lange Sicht

Liegt nach Abzug der gemeldeten Corona-Todesfälle also weiterhin eine Übersterblichkeit vor, wäre dies ein Grund dafür. Ein weiterer könnten unerkannte Corona-Todesfälle sein. In Österreich scheint diese Zahl nicht sehr hoch zu sein. Aber etwa aus Großbritannien wisse man, dass es dort eine "substanzielle Dunkelziffer gibt", so Posch. Insgesamt gibt die Mortalität aber einen guten Eindruck, wie sich das Virus unmittelbar – direkt oder indirekt – auf die Bevölkerung ausgewirkt hat.

Auch langfristig dürften viele Menschen noch an den Folgen und indirekten Effekten der Pandemie leiden, glaubt Posch – etwa weniger Bewegung, andere Ernährung, Veränderungen beim Alkoholkonsum, psychische Probleme auch durch die aktuelle Wirtschaftskrise. "All das kann indirekt Auswirkungen auf die Lebenserwartung der Menschen haben", so der Experte.

Neben Kollateralschäden könnte die Corona-Krise aber auch einen Kollateralnutzen haben. Möglicherweise sind durch die getroffenen Hygienemaßnahmen auch andere Infektionskrankheiten zurückgedrängt worden, die die Menschen ansonsten krank gemacht hätten. Außerdem, das haben Forscher der Med-Uni Innsbruck untersucht, ist die Zahl der Herzinfarkte während der Ausgangsbeschränkungen in Österreich um 40 Prozent zurückgegangen. Ein möglicher Grund dafür ist, dass Patienten sich während der Krise vor der Ansteckungsgefahr im Spital gefürchtet und daher gezögert haben, sich behandeln zu lassen. Eine weitere, durchaus positive Option: Durch die Ausgangsbeschränkungen sind mögliche Auslöser weniger geworden, etwa Luftverschmutzung oder Stress. (Bernadette Redl, Daniela Yeoh, 26.5.2020)