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Bei allen Unterhaltungswerken mit Pandemie-Thematik tauchen derzeit sofort Diskussionen auf: Ist das der richtige Zeitpunkt? Schrecken die Leute nicht eher vor etwas zurück, das sie zu sehr an die Realität erinnert? Oder ist das Interesse gerade jetzt besonders hoch? – Im Grunde sollte die Antwort darauf bereits im März gefallen sein, als die Download-Zahlen von Steven Soderberghs neun Jahre altem Film "Contagion" – der wohl realistischste aller Pandemie-Filme – plötzlich in den Himmel schossen. Und Lawrence Wrights aktueller Roman "The End of October", der diese Fragen natürlich ebenfalls aufgeworfen hat, hat sich in seiner Sparte umgehend an die Spitze der Verkaufscharts gesetzt. Quod erat demonstrandum.

Korrekte Vorhersagen

Eine andere Debatte lässt sich sogar noch schneller abwürgen, nämlich ob sich Wright hier, die "Gunst" der Stunde nutzend, hingesetzt und schnell einen Thriller ausgeworfen hat, der auf die Nachrichtenlage schielt. Nein, denn das im April veröffentlichte "The End of October" war bereits 2019 fertiggestellt. Das schon in mehreren Rezensionen aufgetauchte Attribut "prophetisch" ist also nicht ganz unberechtigt, wenn wir hier von Shutdowns, Herdenimmunität, Verschwörungstheorien, Wirtschaftskollaps, Übereifer beim "Wiederhochfahren" und der gefürchteten "zweiten Welle" lesen. Fast alles, was uns in den vergangenen Monaten beschäftigt hat, ist hier vorweggenommen.

Das vielleicht erstaunlichste Déjà-vu hat man, wenn Wright die Reaktion der Regierung seiner US-Heimat beschreibt: "We need to preserve the leadership." – What leadership? Tildy thought. The president had been almost entirely absent in the debate about how to deal with the contagion, except to blame the opposing party for ignoring public health needs before he took office.

Das sollte einen gar nicht groß überraschen, immerhin ist Lawrence Wright ein langgedienter und unter anderem mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichneter Journalist und Kenner der Politik. Er hat keine Scheu vor brisanten Themen wie Al-Qaida oder Scientology und eine gewisse Vorliebe fürs Knallige, wie sein Drehbuch zum Terrorismus-Thriller "Ausnahmezustand" gezeigt hat. Ausflüge in die Fiktion hat er bisher nur wenige unternommen, und auch bei denen ist seine journalistische Herangehensweise spürbar. "The End of October" enthält so einige (als Roman-Zugeständnis ins Imperfekt gesetzte) Sachbuchpassagen, ob zum Thema Viren oder zur Spyworld, dem Geheimdienste-Konglomerat in und um Washington.

Worum geht's?

Hauptfigur des Romans ist Henry Parsons, ein US-amerikanischer Epidemiologe mit bestimmender Persönlichkeit, Fokus aufs Notwendige ... und einer dunklen Vergangenheit, wie sich zeigen wird. Auf einer WHO-Konferenz erfährt er, dass in einem Lager, in dem das islamisierte Indonesien Homosexuelle zusammengepfercht hat, eine tödliche Seuche ausgebrochen ist. Seiner Frau Jill, die zuhause in Atlanta auf ihn wartet, versichert er, dass er nur noch diesen einen Kurzbesuch absolvieren muss, ehe er heimkehrt. Es wird der Beginn einer langen Kette gleichlautender Vertröstungen sein, während Henry immer wieder von der Heimreise abgehalten wird.

Im Lager muss Henry feststellen, dass er es mit einem neuen Virus aus der Influenza-Familie zu tun hat, das eine extreme Immunreaktion und ein hämorrhagisches Fieber auslöst. Kongoli, wie das Virus künftig heißen wird, ist hochansteckend und fast immer tödlich. Eine eilig eingerichtete Quarantäne kommt zu spät: Der Taxifahrer, der Henry zum Lager gebracht und sich dort möglicherweise auch infiziert hat, ist anschließend zur Haddsch nach Mekka aufgebrochen. Drei Millionen Pilger aus aller Welt werden dort erwartet, es braut sich ein Perfect-Storm-Szenario zusammen.

Politische Spannungen verschärfen die Lage – erst zwischen Saudi-Arabien und dem Iran, bald auch zwischen den USA und Russland. Immerhin steht die Frage im Raum, ob eine der Großmächte das Virus im Labor erzeugt hat, ein Blame Game, das uns auch nicht ganz unbekannt vorkommt. Neben Wladimir Putin – der im Roman zwar im Off bleibt, aber dennoch eine entscheidende Rolle spielt – steht auch der Wissenschafter Jürgen Stark unter Verdacht, ein ehemaliger Kollege Henrys, der inzwischen davon überzeugt ist, dass die Erde ohne den Menschen besser dran wäre. Woher das Virus nun wirklich kam, wird aber erst ganz am Ende geklärt werden.

Zu viel hineingestopft

Ist "The End of October" nun der große Pandemie-Roman, der mit dem Einsetzen von Covid-19 zwangsläufig irgendwann kommen musste? Eher nicht, aus mehreren Gründen. Vom Realismus von "Contagion" ist das Szenario weit entfernt. Immerhin muss man Wright aber zugutehalten, dass er nicht jenen Pandemie-Modus angeworfen hat, der in der SF der mit Abstand häufigste ist: nämlich eine Seuche zu erfinden, die unwahrscheinlicherweise mit einem Schlag zwischen 90 und 100 Prozent der Menschheit auslöscht. "The End of October" zeigt, dass es zwischen solchen Fantasieszenarien und der real gerade stattfindenden Pandemie noch jede Menge Abstufungen gibt, die dennoch bereits absolut grauenhaft sind.

Ein Problem ist die Überfrachtung des Romans, was schon bei der Zahl der zentralen Protagonisten beginnt. Da hätten wir etwa Henrys Frau Jill und ihre beiden Kinder Helen und Teddy, an denen die Geschehnisse an der "Heimatfront" aufgezogen werden. Oder den saudischen Prinzen Majid, der Henrys Bemühungen unterstützt, das ganze Land unter Quarantäne zu stellen. Oder die hochrangige Homeland-Security-Beamtin Matilda Nichinsky, die ein besonderer Hass auf Putin antreibt. Und noch einige weitere – zu viele, um alle ihre Handlungsfäden zu einem befriedigenden Abschluss zu führen.

Auch an Subplots gibt es einen ziemlichen Wildwuchs. Man sollte meinen, eine Pandemie mit Millionen Toten wäre schon spannend genug, aber da haben wir auch die drohende Weltkriegsgefahr, in Vergessenheit geratene Biowaffenprogramme – und nicht zu vergessen eine abenteuerliche U-Boot-Fahrt, die einem Roman von Clive Cussler entsprungen sein könnte. Noch unwesentlicher sind eigentlich nur noch die ausgedehnten Rückblicke auf das Eheleben von Henry und Jill; einmal gibt es sogar einen Flashback aus einem Flashback heraus. Insgesamt mäandert das Geschehen in der zweiten Romanhälfte zusehends aus, weniger wäre mehr gewesen.

Spannend, aber nicht vollauf befriedigend

Umso bemerkenswerter Wrights Entscheidung, was er in seinen Roman nicht einbauen wollte. Zweimal belässt er etwas, das unbedingt ein emotionaler Höhe- bzw. Tiefpunkt hätte werden müssen, im Leerraum zwischen den Kapiteln und erzählt erst ab dem Danach weiter. Vielleicht hat er sich gefühlvolle Passagen einfach nicht zugetraut, aber das Ergebnis liest sich dann halt auch etwas kühl. So kühl wie Henrys Blick auf seine Mitmenschen: He looked at the masses of travelers coming and going and thought: Asthma, lung cancer, pulmonary disease, each inflicting its own cruel method of death. He had a professional habit of seeing pathology wherever he turned.

Fazit: bedingte Empfehlung. "The End of October" ist fraglos hochspannendes Lesefutter mit einigen verblüffenden Parallelen zu unserer gegenwärtigen Situation; rundum befriedigt geht man aus der Lektüre aber nicht raus.