Grenzen durchs Paradies: In ihrer Graphic Novel "Die Verwerfung" widmen sich Carlos Spottorno und Guillermo Abril dem Brenner und der Frage, wie er Menschen verbindet und trennt.

Foto: Spottorno/Abril

Um zu verstehen, wie Europa tickt, empfiehlt sich ein Blick an seine Grenzen. Das ist gerade jetzt, da bilaterale Abkommen und nationale Interessen über ihre Wiederöffnung entscheiden, besonders aufschlussreich. Europas Grundmechanismen anhand seiner Grenzen zu erkunden war aber schon lange vor Corona ein Leitmotiv in der Arbeit des spanischen Reporterduos Carlos Spottorno und Guillermo Abril. 2016 veröffentlichten sie ihre Reportagen über die Außengrenzen der EU und die sich dort abspielenden Flüchtlingsdramen in Form einer Graphic Novel. La Grieta, zu Deutsch Der Riss, wurde in mehrere Sprachen übersetzt.

Zum Zeitpunkt des Erscheinens waren die Themen Flucht und Migration längst in der Mitte Europas angelangt. Insofern scheint es nur konsequent, dass sich Spottorno und Abril nun mit einer EU-Binnengrenze beschäftigen, die überdies hohen Symbolcharakter besitzt.

Symbolische Linie

Die Brennergrenze steht für die Teilung Tirols nach dem Ersten Weltkrieg und seit dem Fall der Grenze durch das Schengener Abkommen für die friedensstiftende Wirkmacht der EU. Umso mehr schaute Europa auf den Brenner, als dort infolge der Flüchtlingskrise eifrig Symbolpolitik betrieben wurde und eine Grenzschließung im Raum stand. Es kam bekanntlich nicht dazu. Erst die Covid-19-Pandemie hat auch hier das hohe Gut der Reise- und Bewegungsfreiheit außer Kraft gesetzt.

Spottorno und Abril bereisten die Grenzregion 2019. Und stießen tief drinnen im Berg, wo die Röhren des Brenner-Basistunnels in den Fels getrieben werden, auf die ideale Metapher für die politischen und emotionalen Aufladungen, mit denen sie es zu tun bekamen: Verwerfung ist ein geologischer Fachbegriff und meint die Bruchlinie, an der unterschiedliche Gesteinsschichten aufeinandertreffen.

Kaiserjäger und Studenten

Als Graphic Novel ist Die Verwerfung keine geschlossene Erzählung, sondern eher eine fragmentarische Sammlung von Eindrücken und Gesprächen – etwa mit Tiroler Kaiserjägern auf "Friedensmission" in Oberitalien, mit Südtiroler Studenten im Zug Richtung Innsbruck oder mit der Lehrerin an einer italienischen Schule. Die Textelemente dienen als reflexive Ebene für die Beobachtungen:

Vor einem Andreas-Hofer-Denkmal fällt ihnen auf, wie sehr dumpfer Lokalpatriotismus und Heldenverehrung einander überall ähneln. Die Frage, was ein spanischer König in der Innsbrucker Hofkirche verloren hat, wird zum Ausgangspunkt für Überlegungen zu nationalen Geschichtsperspektiven: "Ich glaube, wir verschwenden in der Schule zu viel Zeit mit lokalen Helden, lernen viel über nationale, aber viel zu wenig über europäische Geschichte. Das halte ich für einen großen Fehler", sagt Fotograf Spottorno im STANDARD-Gespräch.

Bedrohung ohne Grenzen

So simpel mancher Kommentar in Die Verwerfung zunächst wirken mag, so weit öffnet sich das Feld, wenn man den Denkanstößen folgt. Wenig überraschend führen sie geradewegs auf europäische Ebene. Dort fügt sich aus Sicht Spottornos nahtlos auch das neueste Kapitel in der wechselvollen Geschichte der Brennergrenze ein: "Wir sehen jetzt, dass globale Bedrohungen keine Grenzen kennen. Keine rot-weißen Balken stoppen ein Virus oder eine Umweltgefahr. Einzig Kooperation und intelligentes Handeln können die Welt zu einem sicheren Platz machen."

Die Verwerfung entstand als Auftragswerk für die Reihe Inn Situ der Fotogalerie im BTV Stadtforum in Innsbruck und ist dort bis 14. August als Ausstellung installiert – Grenzbalken inklusive. Das Buch ist in Leporello-Form erschienen (Fotohof-Edition). (Ivona Jelčić, 25.5.2020)