Eine der wesentlichen Totalitarismusforscherinnen – die auch mit ihrem markanten Erscheinungsbild Wirkung zu erzielen wusste: Hannah Arendt im Jahr 1966 an der University of Chicago.

Foto: Art Resource, New York/DHM

Im Winter 1959 erschien in der amerikanischen Zeitschrift Dissent ein Aufsatz von Hannah Arendt mit Reflections on Little Rock. Die Denkerin der Freiheit, die 1941 in die Vereinigten Staaten gekommen war und seit 1951 auch die US-Staatsbürgerschaft hatte, machte sich Gedanken über einige Bilder aus der Bürgerrechtsbewegung. Auf einer Fotografie sieht man die 15 Jahre alte schwarze Schülerin Dorothy Counts, wie sie auf dem Weg zur Schule von weißen Mitschülern verhöhnt wird. An ihrer Seite geht Dr. Edwin Thompkins, ein Freund der Familie, von dem Arendt irrtümlich schrieb, er wäre weiß.

Vor allem aber stieß sie mit ihrer Einschätzung der Aktion auf Unverständnis: Sie kritisierte die Eltern der Schülerin und Aktivisten dafür, dass sie diese und andere junge Menschen dieser Extremsituation aussetzten. Der gesetzlich erzwungene gemeinsame Schulbesuch von rassistisch getrennten Gruppen ist für Arendt ein Grenzfall, bei dem das Streben nach Gleichheit der Freiheit womöglich abträglich sein könnte. Einer Freiheit, der es im privaten Leben auch erlaubt sein muss, sich von Menschen zu segregieren, gegen die jemand rassistische Vorurteile hegt. Bildung und Schule aber sind Orte, an denen das Private auf das Öffentliche trifft.

Mut und Missverständnis

Der Name der Zeitschrift, in dem Arendt ihren Text veröffentlichte, war für sie auch Programm: Dissens ist eine intellektuelle Tugend. Und so ist Hannah Arendt auch in das kollektive Bewusstsein eingegangen: als eine Frau, die mit der Kultur des Abendlands zutiefst vertraut war und mit dieser Bildung einige der wichtigsten Bücher zu Fragen der Politik im 20. Jahrhundert verfasst hat. Totalitarismus, Revolutionen, Macht und Gewalt waren ihre Themen.

Bekannt wurde sie allerdings vor allem mit einer geläufigen Formulierung, die häufig missverstanden wird: Als sie über den Prozess gegen den NS-Verbrecher Adolf Eichmann schrieb, stieß sie auf eine "Banalität des Bösen", die eines eben gerade nicht war – banal mag das Individuum sein, nicht aber das übergeordnete Regime, das es hervorgebracht hat. Sie sah einen Bürokraten, einen Mann, der sein Bewusstsein für Recht und Unrecht lange schon verloren hatte, und sie sah eine "unheimliche Nichtigkeit".

Wie kann eine Ausstellung dem Leben und Arbeiten einer so komplexen Figur wie Hannah Arendt gerecht werden? Im Deutschen Historischen Museum in Berlin ist natürlich auch ein Heft von Dissent zu sehen, denn von dieser Art sind nun einmal die Gegenstände, von denen ein Leben geprägt ist, das sich vor allem in der Sprache ereignet: Druckwerke, Zeitungsseiten, Briefe, Notizen.

Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert lautet der Titel der großen Sommerausstellung im DHM, während die Dauerausstellung des Hauses "bis auf weiteres" geschlossen ist. Auf zwei Stockwerken in dem Zubau, mit dem I. M. Pei 2003 das frühere Zeughaus Unter den Linden deutlich aufgewertet hat, sind die Stationen im Leben und Arbeiten von Hannah Arendt verteilt.

Am Eingang begegnet man zuerst einer Frau, die für das Scheitern der jüdischen Assimilation in Deutschland steht: Über die Schriftstellerin Rahel Varnhagen (1771–1833) schrieb Arendt eine Biografie, die zu einem ihrer populärsten Bücher wurde. In dem "romantischen Salon", als dessen Gastgeberin Rahel Varnhagen vor allem berühmt wurde, traf sich ein gebildetes Deutschland, das im langen 19. Jahrhundert auch die Grundlagen für eine Zeit des bürgerlichen Fortschritts legte, der später aber zunehmend nationalistisch überformt wurde.

Heidegger und Kant

Hannah Arendt stammte aus Königsberg, also aus der Stadt der Aufklärung, für immer verbunden mit dem Namen Immanuel Kants. Unter den Philosophen des 20. Jahrhunderts wurden vor allem Martin Heidegger und Karl Jaspers für sie entscheidend: Während der eine für eine Weile den NS-Staat als historische Fügung begrüßte, wurde der andere zu einer der wichtigsten Figuren des Neubeginns nach 1945. Liebe und Freundschaft waren für Arendt immer auch Teil ihrer Streitbarkeit.

Eines der Verdienste der Ausstellung im DHM sind die vielen Hinweise auf Aspekte, die angesichts der prominenten Themen leicht aus dem Blick geraten könnten: ihre Lektüre des Schriftstellers Joseph Conrad zum Beispiel, als Beispiel für die literarische Imprägnierung aller ihrer Reflexionen. Unweigerlich ist eine Ausstellung aber auf Gegenstände angewiesen, und das heißt bis zu einem gewissen Grad auch: auf Äußerlichkeiten.

Verkörperte Gedanken

Vielleicht ist das bedeutsamste Objekt sogar eines, das man leicht übersehen könnte: Ein Zigarettenetui war im persönlichen Leben der starken Raucherin sicher enorm wichtig. Ein goldenes Collier wiederum, das sie 1959 von Karl Jaspers anlässlich der Verleihung des Lessing-Preises geschenkt bekam, zeugt von den Dimensionen einer Verbundenheit, die Arendt nach dem Krieg auch mit Deutschland hatte, wohin sie gleichwohl nicht zurückkehren wollte.

Zu einem Nerzcape, das auch ausgestellt ist, gibt es sogar eigens ein Video-Interview mit der Modetheoretikerin Barbara Vinken. Das Kleidungsstück zeugt davon, dass Gedanken immer einer Verkörperung bedürfen und Hannah Arendt auch mit ihrer Mode und ihrem Erscheinungsbild zu ihrer enormen Wirkung beitrug – ebenso wie mit ihrer markanten Stimme, zu der die Zigaretten wohl einen Gutteil beitrugen und die man an zahlreichen Audio-Stationen in der Ausstellung vernehmen kann.

Vielfalt der Themen

Mit dem Wissen, das man im Deutschen Historischen Museum sammeln kann, wird man vor allem aber Anregungen finden, zu einer vertieften Lektüre von Hannah Arendt zurückzukehren.

Das lesenswerte Katalogbuch gibt dazu zusätzliche Hinweise, denn es macht in kompakt portionierten Beiträgen deutlich, welche Vielzahl von Themen des 20. Jahrhunderts tatsächlich bei Arendt auftauchen: Neben den zentralen Fragen der Gewalt in den politischen Systemen sind das nicht zuletzt die Frauenbewegung, die Studentenbewegung, und schließlich die Debatten um die Menschenrechte und die staatsbürgerlichen Rechte – und um die vielen, die aus solchen Rechtsräumen ausgeschlossen sind.

Hannah Arendt musste selbst aus einem System flüchten und fand in Amerika ein System, dessen revolutionären Grundlagen sie mehr abgewinnen konnte als denen in Frankreich. Sie heute zu lesen führt aus dem 20. direkt ins 21. Jahrhundert. (Bert Rebhandl, 25.5.2020)