Ein verlockender Duft von Grillfleisch zieht entlang der Südküste Korčulas durch die winterliche Nachtluft. Am Strand unterhalb des Dorfes Smokvica sitzen Luka Živojević und seine Schwester Duša um ein Feuer und grillen ein Schaf, das Luka am Abend zuvor geschlachtet hatte. Es ist der 25. Jänner 1463, ein Dienstag, gegen zwei Uhr nachts, als das geschwisterliche Barbecue mit dem Eintreffen der dörflichen Ordnungshüter (Gastalden genannt) ein jähes Ende findet.

Vier Tage später erscheinen die vier Gastalden aus Smokvica in der Stadt Korčula, um in der dortigen Kanzlei Bericht zu erstatten. Ihre Aufmerksamkeit richtet sich nicht auf die "große Geschichte" ihrer Zeit, wie die Zusammenstöße zwischen dem expandierenden Osmanischen Reich, Venedig, Ungarn und Neapel im östlichen Adriaraum. Auch die nahe Zukunft scheint fern, zeigen sie doch keine Vorahnungen der in wenigen Wochen folgenden osmanischen Eroberung des bosnischen Königreiches oder des Ausbruchs des venezianisch-osmanischen Krieges im Sommer 1463. Der Fokus der Ordnungshüter ruht ganz allein auf dem ländlichen Mikrokosmos von Korčula, auf ihrem Dorf Smokvica, hier und jetzt im Jänner 1463.

Blick von der Adria auf die Stadt Korcula.
Foto: Fabian Kümmeler

In 40 Kartons über die Insel

Die seit 1420 wieder zur Seerepublik Venedig gehörende Insel Korčula war ohnehin nur selten unmittelbar von den historischen Umbrüchen in Südosteuropa betroffen. Von zwei katalanischen Überfällen (1483/84) abgesehen, verwüstete erst 1571 kurz vor der Seeschlacht von Lepanto ein osmanischer Angriff große Teile der Insel. Ihre geopolitische Randlage ist ein Glücksfall für die Forschung, übertreffen die reichhaltigen Archivbestände der Korčulaner Communitas doch teils selbst die immensen Archive der norditalienischen Städte.

In rund 40 Kartons birgt das Kroatische Staatsarchiv in Zadar ein breitgefächertes Spektrum an Quellen zur (ländlichen) Geschichte Korčulas im 15. Jahrhundert; von Ratsprotokollen und Dogenbriefen über Gerichts-, Verwaltungs- und Notariatsakten bis hin zu Meldungen ländlicher Amtsträger über Diebstähle und Weideschäden. Diese unveröffentlichten und von der Forschung bis dato kaum beachteten Dokumente eröffnen nicht nur detaillierte kulturgeschichtliche Einblicke in den Alltag und die Lebenswelten von Dorfgemeinschaften, Bauern, Fischern, Hirten und kommunalen Amtsträgern im ländlichen Raum der Insel, sondern auch in deren Verflechtung mit den sozialen, ökonomischen und herrschaftlichen Strukturen in den venezianischen Überseegebieten.

Ländliche Lebenswelten unter den Flügeln des Löwen

Im Spätmittelalter spitzten sich in weiten Teilen des Adriaraums die Spannungen zwischen ratsfähigen Patriziern und politisch Unprivilegierten zu. Im Falle Korčulas verlief diese Bruchlinie jedoch nicht zwischen städtischer und ländlicher Gesellschaft. Denn die Statuten der kommunal verfassten Inselgesellschaft umfassten – deutlicher als im übrigen Dalmatien – neben dem städtischen auch den ländlichen Raum Korčulas. Die im spätmittelalterlichen Europa weitverbreiteten Formen des Frondienstes und Feudalismus sind auf Korčula ebenso wenig nachweisbar wie die am nahegelegenen balkanischen Festland üblichen Erbpachtverträge byzantinischer Prägung (Emphyteuse). Vielmehr war die städtische und ländliche Bevölkerung der Insel – nobiles, cives und habitatores – persönlich frei. Auf Basis zumeist kurzfristiger Arbeitsverträge stand sie aber vielfach in sozioökonomischen Abhängigkeitsverhältnissen, die von der Forschung unter dem Begriff des "dalmatinischen Kolonatensystems" zusammengefasst werden.

An der Spitze der Insel stand der venezianische Comes, der während seiner zweijährigen Amtszeit als Rektor die Geschicke Korčulas lenkte. Als einziger venezianischer Amtsträger vor Ort war er zwar mit einer Fülle administrativer Kompetenzen und höchster richterlicher Entscheidungsgewalt ausgestattet, konnte aber seine Entscheidungen und Urteile nur mit Hilfe der Richter und Amtsträger der Inselgemeinschaft umsetzen. Die Communitas unterhielt dazu ein bis weit ins Inselinnere verzweigtes Netz an Amtsträgern, die alle sechs Monate aus den Dorfgemeinschaften gewählt wurden. Zur Aufrechterhaltung der statutaren Rechtsordnung übernahmen sie umfassende Verwaltungs- und Exekutivaufgaben und hüteten die landwirtschaftlichen Nutzflächen vor den zahlreichen Herden der Korčulaner Hirten, deren Viehwirtschaft einen der wichtigsten Wirtschaftszweige der Insel im Spätmittelalter bildete.

So war die Korčulaner Gesellschaft im 15. Jahrhundert durch einflussreiche Dorfgemeinschaften (Casalia) mitgeprägt. Als Kollektive tätigten sie Rechtsgeschäfte, führten Prozesse und waren für ungeklärte Verbrechen auf ihrem Gebiet haftbar sowie zu Schadensersatzleistungen verpflichtet. Neben der patrizischen Elite und den Bürgern der Inselstadt fiel den Dorfgemeinschaften dadurch eine rechtliche, administrative und sozioökonomische Schlüsselrolle zu.

Die Schafe der Anderen oder auch der Preis einer Nacht

An jenem Jännerabend 1463, so berichteten die Gastalden weiter, hatte sich, nachdem ihnen der Verlust eines Tieres gemeldet worden war, zunächst einer von ihnen, Antun Radoslavlić, auf die Suche nach dem verlorenen Schaf begeben. Nachdem er einige Stunden vergebens gesucht hatte, traf Antun gegen zwei Uhr nachts an einer abgelegenen Stelle am Strand südlich von Smokvica auf die grillenden Geschwister. Als sich der Gastalde den beiden näherte, sah er, wie Luka das Fleisch unter seinem Gewand verschwinden ließ und flüchtete, nur um kurz darauf anstatt des Fleisches mit einer Hand voll Steine zurückzukommen. Angesichts der Bedeutung des Korčulaner Hirtenwesens war Fleisch auf der Insel zwar kein rares Gut, aber der Besitz und Verkauf von Fleisch wurden ebenso wie Tierdiebstahl präzise durch die Korčulaner Statuten geregelt.

Weinanbau bei Smokvica.
Foto: Fabian Kümmeler

Da Luka nicht nachweisen konnte, dass sie kein fremdes Tier grillten, begann eine Diskussion, die der Kanzlist in bemerkenswert sauberer Trennung zwischen dem auf Latein gehaltenen Bericht und der auf venezianischem Dialekt wiedergegebenen direkten Rede festhielt. Demnach warf Luka dem Amtsträger vor „Ihr beschuldigt mich, dass ich Unrecht getan habe, dies zu essen“, während Antun versuchte, ihn unter Androhung einer Geldstrafe wegen Tierdiebstahls von einer Rückkehr ins Dorf zu überzeugen. Luka reagierte mit wüsten Beschimpfungen und verschwand mit den Fleischresten in Richtung seines Hauses. Dort fanden ihn die Gastalden, die seine Geldstrafe aufgrund der Beleidigungen erhöhten und ihn unter Hausarrest stellten. Doch Luka entkam erneut und konnte von den Gastalden erst am nächsten Morgen wieder gestellt werden.

In der Zwischenzeit hatten die Gastalden mit den Resten des gestohlenen Tieres einen Beweis seines Diebstahls sichergestellt. Luka entzog sich erneut, erkannte aber am Abend, als er ins Dorf zurückkehrte, den Ernst der Lage: Er hatte nicht nur statutenwidrig ein Tier gestohlen und verzehrt, sondern durch seine Weigerungen, Beschimpfungen und Fluchtversuche auch die Gastalden gegen sich aufgebracht. Kam sein Diebstahl in der Stadt nun vor Gericht, drohten ihm statutengemäß nicht nur der Verlust seiner juristischen Glaubwürdigkeit – ein erhebliches soziales Defizit, durch das er vor Gericht nicht mehr als Zeuge aussagen durfte –, sondern neben der Geldstrafe auch noch acht Tage Kerkerhaft. Letztendlich folgte er den Gastalden in die Stadt, wo der Comes lediglich die achttägige Kerkerhaft anordnete und ihn damit noch vergleichsweise milde verurteilte.

„Einfach nur Bauern“ oder selbstverwaltete Kommunen? 

Derart mikroskopische Einblicke in ländliche Lebenswelten und den Arbeitsalltag der ländlichen Amtsträger finden sich reichlich in den Korčulaner Quellen. Als profane Verwaltungsdokumente offenbaren die vielen Berichte der ländlichen Amtsträger (wie der hier vorgestellte Bericht von 1463) und die darauf beruhenden Gerichtsakten nicht nur neue Erkenntnisse über die Funktionsweisen der ländlichen Selbstverwaltung Korčulas im Zusammenspiel mit der venezianischen Oberherrschaft. Darüber hinaus erlauben sie auch, ein faszinierend genaues Gesamtbild der Sichtweisen auf den venezianischen Staat im Adriaraum sowie der Vielfalt individueller ländlicher Lebenswelten an der Schwelle zur Neuzeit zu rekonstruieren. (Fabian Kümmeler, 12.6.2020)

Fabian Kümmeler forscht als APART-GSK Stipendiat am Institut zur Erforschung der Habsburgermonarchie und des Balkanraums der ÖAW zur Kulturgeschichte des südosteuropäischen Hirtenwesens zwischen Transhumanz und Sesshaftigkeit. Zudem befasst er sich mit der Mikrogeschichte ländlicher Gesellschaften sowie Recht und Verwaltung im venezianischen Dalmatien. Demnächst wird seine Monographie „Ländliche Gemeinschaften im venezianischen Dalmatien: Lebenswelten und Gemeinschaftsvorstellungen auf Korčula (1420–1499)“ im Verlag De Gruyter in der Reihe „Südosteuropäische Arbeiten“ erscheinen.

Quelle

Državni arhiv u Zadru, HR-DAZD-11 Općina Korčula (12. st. – 1797.), Commune insulae et civitatis Curzolae, 16/30.7, fol. 5-6 (29. Jänner 1463).

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