Das Interdisciplinary Media Ethics Center (IMEC) beschäftigt sich mit medienethischen Fragen sowie Ansätzen der angewandten Ethik, insofern sie Reflexionswissen für Probleme unserer mediatisierten Welt anbieten. Die derzeitige Lage zeigt die absolute Dringlichkeit, dies aus wissenschaftlicher Perspektive und mit dem Ziel, eine größere Öffentlichkeit zu erreichen, zu unternehmen. Wir haben es mit einer Krise zu tun, die in selten dagewesener Weise aufzeigt, wie sehr es einer aufgeklärten und diskursbereiten Öffentlichkeit bedarf. Wir möchten daher einige aus unserer Sicht besonders wichtige Themen und medienethische Erkenntnisse in Erinnerung rufen.

Die globalisierte und digitalisierte Welt hat neben den unbestreitbaren Erfolgen hinsichtlich effizienter Wirtschaftsweisen, Handel und Wirtschaftswachstum, Informationsvielfalt, Informationsverbreitung und vielem anderen mehr auch neue ethische Fragen eröffnet: Die Grundrechtsdebatte und Frage der Solidarität mit Geflüchteten, die umweltethische Diskussion um notwendige nachhaltige Energie- und Wirtschaftsformen oder auch wirtschaftsethische Verteilungsfragen in kapitalistischen Systemen sind aktuelle Beispiele. Aus medienethischer Sicht sehen wir durch die seit längerem klar sichtbaren Tendenzen zur digitalen Kommunikation einige weitere große Problemfelder, die nach wie vor kaum gelöst sind.

Filterblasen und Echokammern, die uns die immer gleichen Informationen bieten, bestimmen teilweise unsere Konsumentscheidungen und politischen Ansichten.
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Filterblasen und Echokammern

Inhärente Schwachstellen der digitalisierten Kommunikationsformen auf Plattformen sind zwar oftmals angesprochen: Filterblasen und Echokammern, die uns die immer gleichen Informationen bieten, bestimmen teilweise unsere Konsumentscheidungen und politischen Ansichten; Fake-News, vor allem jene Varianten, die sich der Technik der Deep Fakes bedienen und in Videos öffentlichen Personen fremde Worte in den Mund legen, beeinflussen unser Wahlverhalten und sind demokratiegefährdend; die Verletzlichkeit unserer Privatsphäre und ihre Ausbeutung durch Big-Data-Unternehmen schließlich sind nach wie vor ein Thema, dessen weitreichende Konsequenzen mehr diskutiert werden müssten. Ein Beispiel hierfür ist der Wunsch mancher nach überwachenden Apps (siehe die "Corona-App" des Roten Kreuzes mit hunderttausenden AnwenderInnen), deren Implikationen für unser Zusammenleben noch lange nicht klar sind.

Zwar wird in Österreich die App sehr heftig diskutiert und der Source-Code publiziert (womit die Zustimmung der meisten Datenschützer erfolgte), doch treten an diesem Beispiel Grundfragen auf, die uns noch lange beschäftigen werden: Wollen wir auf Dauer für ein diffuses Sicherheitsgefühl unsere bisherige Haltung zum Datenschutz (aber auch bestimmter Grundrechte) aufgeben? Auch die oft erwähnte Freiwilligkeit hilft hier womöglich nur einen kleinen Schritt weiter, denn wie freiwillig sind unsere Entscheidungen unter sozialem Druck? Die Verhaltensökonomie hat die Bedeutung des Gruppenzwangs (peer-pressure) und von vorgeprägten (vorgeframten) Entscheidungen nachgewiesen.

Mit anderen Worten: Wissen wir eigentlich immer, wofür wir uns gerade entscheiden, oder fehlt uns für eine informierte Entscheidung das technologische und medienpädagogische Know-how? Zum Beispiel: Eine App, die mittels Bluetooth eine Verbindung zwischen Menschen herstellt, ist weniger kontrolliert als ein Tracking mittels GPS. Oder: Die bereitwillige (und unbezahlte) Zurverfügungstellung unserer persönlichen Daten auf Plattformen wie Facebook, Google und Amazon mag Einkaufen für uns einfacher machen – aus ökonomischer und ethischer Sicht dient es dem Ausnutzen von Netzwerkeffekten, dem Microtargeting, also personenscharfer Werbeansprache, und der Monopolisierung der Dienstleistungen durch diese Plattformen. Für dieses technologische Wissen, für die entsprechende (heute sich durchaus komplex darstellende) Medienkompetenz im Sinne einer "Befähigung" der Menschen, Medien und Kommunikationsformen verstehen und aktiv und selbstbestimmt nutzen zu können, sind nicht nur die Individuen verantwortlich: Es sind aus unserer Sicht immer auch die Organisation (oft: das Medienunternehmen, die digitalen Plattformen) und das System (die Medien- und Bildungspolitik, die Behörden und Regulierungsinstitutionen) gefragt, und erst das Zusammenspiel aller drei medienethischen Ebenen kann normative Erwartungen unserer mediatisierten Gesellschaft einlösen.

Aufrechnen von Nutzen

Die Diskussion um die Grundwerte Freiheit und Sicherheit ist so alt wie die Ethik als philosophische Teildisziplin selbst. Wie ist im Fall des Konflikts zwischen diesen beiden Grundwerten abzuwägen? Es ist auch nicht ausgeschlossen, dass wir uns in bestimmten Situationen für Einschränkungen des einen oder des anderen Wertes entscheiden, doch sollte dies rational begründet und zeitlich befristet sein. Die Ethik kann uns hier Wege aufzeigen: Viele Philosophen und Ökonomen (unter ihnen John Rawls, Amartya Sen, Jürgen Habermas) wehren sich gegen das vom Utilitarismus präferierte "Aufrechnen" von Nutzeninformationen und Präferenzen der BürgerInnen.

Dieser Ansatz geht davon aus, dass es möglich ist, unsere Wünsche ("Präferenzen") zu vergleichen und zu aggregieren, um eine soziale Nutzenfunktion zu erreichen, in der das Maximum eines erwünschten Zustandes für eine Gesellschaft herrscht. Aktuelles Beispiel: Manche Akteure kontrastieren vermiedene Todesfälle und Erkrankungen durch ein striktes Verfolgen des Ziels "Gesundheit" mit gestiegenen Arbeitslosenzahlen und anderen Formen des Beeinträchtigung von Menschen, als könnten wir quasi "rechnerisch" am Ende eine Entscheidung fällen, die den größten Gesamtnutzen bringen wird. Vor so einer Herangehensweise können wir als angewandte Ethiker nur warnen: Nicht nur können Menschen ihre Präferenzen häufig gar nicht klar bestimmen – darüber hinaus lassen sich die Menschen in ihren höchst unterschiedlichen Lebenssituationen und Wünschen nicht gegeneinander aufrechnen, selbst wenn die Politik über die Informationen und Daten verfügen würde.

Die Feststellung menschlicher Wünsche, und sind sie noch so einsichtig, begründet nicht die normative Entscheidung, welche Wertvorstellungen anderen ebenso einsichtigen Präferenzen vorgezogen werden sollen. Sein begründet kein Sollen. Der Wunschtraum eines wohlinformierten Wohlfahrtsstaats, der alle Probleme löst und unkommode Belästigungen vermeidet, führt notwendig in eine große Enttäuschung. Es scheint uns besser, jene Konzepte und Theorien zu beherzigen, die diverse (und in der Kommunikation disperse) Interessen auf gleicher Augenhöhe ernst nehmen, die einen Diskurs der BürgerInnen verlangen und die auch die schwachen und wenig gehörten Stimmen miteinbeziehen. Dazu gehören gerade diskursethische und "inklusive" Ansätze, die die Gerechtigkeit solcher einschneidenden Maßnahmen analysieren können.

Kommunikative Rationalität

Ähnliches gilt für die Frage von Freiheit und Gleichheit. Eine komplett liberale Gesellschaft wird immer sehr ungleich sein, eine komplett gleiche Gesellschaft wäre immer unfrei. Denn es gäbe weder den Raum für eigenständige Lebensformen noch für individuelle Vorstellungen von Glück und Leistung. Wir brauchen beides, Freiheiten ebenso wie ein bestimmtes Maß an Gleichheit.

Der Ökonom und Philosoph Amartya Sen machte etwa deutlich, dass Freiheit immer mit Zielen und Mitteln verbunden ist, und dass weder die Gleichheit der Ziele noch jene der Mittel uns gleiche Freiheiten garantieren. Wie die Menschen die jeweilige Verteilung dieser Werte in einer Gesellschaft empfinden, lässt sich gut empirisch erheben. Insofern ist die Erforschung des "Stands der Dinge", der Wünsche und Wertvorstellungen der Menschen ein wichtiger Baustein für empiriegestützte Politik. Doch nur ein gleichberechtigter Diskurs der Gesellschaft mit sich selbst, der einer kommunikativen Rationalität verpflichtet ist und nicht parteipolitischen Mehrheitsfantasien, kann diese Erkenntnisse, Meinungsbilder und Umfrageergebnisse, somit unsere Vorstellungen vom "guten Leben", abwägen und bewerten. Dazu kann empiriebasierte und ethisch orientierte Wissenschaft einen Beitrag leisten.

Wir sehen in den genannten Punkten große Chancen für eine gesellschaftsorientierte Wissenschaft und Politik als Postkrisen-Paradigma. Es kann der Anfang einer neuen Verantwortung von Wissenschaft sein, die neben ihrer Forschungstätigkeit auch die so wichtige Vermittlung kommunikativer Rationalität in den Medien und für die Öffentlichkeit leistet. (Tobias Eberwein, Matthias Karmasin, Larissa Krainer, Friedrich Krotz, Michael Litschka, Matthias Rath, 27.5.2020)