Ein Taucher erkundet den versunkenen römischen Hafen von Olbia im Südosten Frankreichs. Die Überreste sind 2.000 Jahre alt – aber ließen sich auch aus einer zehnmal so fernen Vergangenheit noch Spuren finden?
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Als die vorerst letzte Kaltzeit vor 25.000 bis 20.000 Jahren ihren Tiefpunkt erreichte, hätte die Weltkarte ganz anders ausgesehen als heute. Während dieses sogenannten Letzteiszeitlichen Maximums war weltweit so viel Wasser in Gletschern gebunden, dass der Meeresspiegel um 125 Meter niedriger lag als heute. Das schuf nicht nur Landverbindungen, wo es heute keine mehr gibt, sondern vor allem auch riesige bewohnbare Gebiete, die heute als Teil des Kontinentalschelfs wieder unter Wasser liegen.

In einer aktuellen Studie, die im Fachjournal "Geographical Review" erschienen ist, haben Forscher zu beziffern versucht, wie viel Land seit damals verloren gegangen ist. Darin kommt das Team um Jerry Dobson, einen emeritierten Geographen von der University of Kansas, auf einen erstaunlichen Wert: Die damals noch trockenliegenden kontinentalen Säume hätten in ihrer Gesamtheit eine Fläche so groß wie Südamerika ergeben. Dobson nennt diese riesigen versunkenen Landstriche "Aquaterra".

Und dieses kontinentgroße Aquaterra sei "gutes Land" gewesen – besser als das, was ein tatsächlicher Kontinent im Schnitt zu bieten habe. Es war flach, zwangsläufig küstennah und darum aller Wahrscheinlichkeit nach feucht und reich an Pflanzen und Tieren. Mit anderen Worten: Es wäre genau die Art von Land gewesen, die Menschen gute Lebensbedingungen geboten hätte.

"Junges" Beispiel Doggerland

Ein bekanntes Beispiel dafür und zugleich ein Sonderfall war Doggerland mitten in der heutigen Nordsee. Dort gab es nämlich noch bis weit über das Letzteiszeitliche Maximum hinaus eine Landmasse, den Überrest der eiszeitlichen Verbindung zwischen Großbritannien und dem Rest des Kontinents. Dieses Gebiet war lange Zeit von mittelsteinzeitlichen Jägern und Sammlern besiedelt.

Erst vor etwa 8.000 Jahren schloss sich das Meer über Doggerland, nachdem es von mehreren Megatsunamis überrollt worden war. Vermutlich war es während der Katastrophe aber bereits verlassen, da der steigende Meeresspiegel schon in der Zeit davor das Land sukzessive zum Schrumpfen brachte, die Böden versalzen ließ und das Land langsam unbrauchbar machte.

Beringia ...

Vor 20.000 Jahren, als die globale Eisbedeckung am größten war, muss es viele Regionen ähnlich Doggerland gegeben haben. Und wenn man nach Dobson geht, haben sie eine entscheidende Rolle für die Wanderungs- und Siedlungsgeschichte des Menschen gespielt. Immerhin hatte sich der Homo sapiens zu dieser Zeit schon längst von Afrika nach Europa, Asien und Australien ausgebreitet und stand unmittelbar vor den Toren Nordamerikas. Was zugleich eine Region ist, auf die Dobson besonderen Fokus gelegt hat.

Beringia, die eiszeitliche Verbindung zwischen Sibirien und Nordamerika, war keine schmale Brücke, sondern ein weites Land. Vermutlich hat es den aus Asien vorrückenden Menschen einige Jahrtausende lang als Heimat gedient, ehe sie nach Amerika weiterzogen. Irgendwann vor 15.000 bis 11.000 Jahren sollen die Menschen dann den neuen Kontinent betreten und sich durch einen eisfreien Korridor Richtung Süden vorgearbeitet haben, so die klassische Annahme.

An dieser These gibt es aber Zweifel, was Zeit und Raum betrifft. Funde aus Texas deuten darauf hin, dass Menschen schon vor 20.000 Jahren vor Ort gewesen sein könnten. Besagter Korridor kann ihnen so nah am Höhepunkt der Kaltzeit aber noch nicht zur Verfügung gestanden haben – sie müssten also auf anderen Wegen gekommen sein. Manche Forscher vermuten ohnehin schon lange, dass sich die ersten Amerikaner in Booten an den Küsten entlang nach Süden ausgebreitet haben.

... und die arktische Inselwelt

Diese Bootsreisen könnten bereits im Raum Beringia begonnen haben, vermutet Dobson. Der Grund: Ozeanographische Modelle, die Giorgio Spada und Gaia Galassi von der Universität Urbino zusammen mit ihm entwickelt haben, weisen auf das Vorhandensein einer Reihe eiszeitlicher Inseln im Beringmeer hin. Diese hätten sich zunächst nahe Asien und später immer weiter im Osten aus dem Wasser gehoben. Die Sibirier könnten also dazu animiert worden sein, den der Reihe nach auftauchenden Inseln immer weiter Richtung Amerika zu folgen.

Zu ihren Aussagen kamen die Forscher durch topographische Modelle, die stärker als früher den Faktor Landhebung berücksichtigten. Die ehemaligen Küstenverläufe kann man nämlich nicht einfach rekonstruieren, indem man sich den jetzigen Kontinentalschelf ansieht und die darüberliegende Wassersäule in passender Höhe subtrahiert. Das Wasser selbst beeinflusst durch seine Masse den Boden – fällt diese weg, hebt er sich in unterschiedlich starkem Ausmaß und die ganze Topographie verändert sich. Auf diese Weise wurden in der neuen Studie Inseln "entdeckt", die dort einst existiert haben sollten und von deren Existenz man bislang keine Ahnung hatte.

Neue Alte Welt

In einer ohnehin schon so geschichtsträchtigen Region wie dem Mittelmeerraum könnte die Suche nach vorgeschichtlichen Zeugnissen besonders aussichtsreich sein. Etwa die Straßen von Sizilien und Messina, die Sizilien heute von Nordafrika respektive dem italienischen Festland trennen. Am Ende der Kaltzeit hatten hier erweiterte Küstengebiete und heute nicht mehr existierende Inseln das Mittelmeer beinahe zweigeteilt – weshalb es sich um eine wichtige Migrationsroute gehandelt haben könnte.

Spuren steinzeitlicher Kulturen sollten sich dort laut Dobson finden lassen. Er verweist dabei auf eine Entdeckung, die im Jahr 2015 kurzfristig für Schlagzeilen gesorgt hatte. In der Straße von Sizilien war am Meeresboden ein knapp 10.000 Jahre alter Monolith gefunden worden, der Spuren menschlicher Bearbeitung zeigt: Hinweis auf eine Kultur, von der man bislang nichts wusste. Der Fundort, heute unter Wasser, war einst eine Insel.

Auch weiter östlich könnten sich Tauchexpeditionen lohnen. Das Schwarze Meer, heute via Bosporus, Marmarameer und Dardanellen mit dem Mittelmeer verbunden, war während der letzten Kaltzeit von den Weltmeeren getrennt. Es gab lediglich im Becken des Marmarameers einen großen See. Der ist inzwischen ebenso im Meer verschwunden wie die Siedlungen, die es an seinen Ufern gegeben haben könnte – immerhin haben sich Menschen stets gerne rings um Seen niedergelassen. Dobson hofft, dass in den Sedimentschichten am Grund des Marmarameers noch Überreste solcher Siedlungen, von Booten und vielleicht sogar von steinzeitlichen Hafenanlagen schlummern.

Wo beginnen?

Nun ist Unterwasserarchäologie aufwendig und teuer, und Aquaterra als Gesamtheit aller Kontinentalsäume ist ein im wahrsten Sinne des Wortes weites Land – zu weit, um es einfach auf gut Glück zu versuchen. Deshalb haben sich Dobson, Spada und Galassi in ihrem Paper auf "Engstellen" konzentriert; neben den bereits genannten unter anderem auch auf den Isthmus von Suez, die Straße von Hormus zwischen Iran und Oman oder auch auf die Straße von Malakka zwischen Malaysia und Sumatra.

Solche Passagen hätten die Ausbreitung steinzeitlicher Kulturen ermöglicht und zugleich kanalisiert. Die Chance, auf Hinterlassenschaften dieser Kulturen zu stoßen, wäre in solchen Regionen daher am größten. Nur gilt es eben zu berücksichtigen, dass diese geschichtsträchtigen Regionen heute nur noch zum Teil trockenen Fußes begehbar sind. Um ein vollständiges Bild der entscheidenden 10.000 bis 15.000 Jahre vor dem Entstehen der Hochkulturen zu gewinnen, müsse man buchstäblich in die Vergangenheit eintauchen. (jdo, 1. 6. 2020)