Die Tänzerinnen und Tänzer bei Alice Ripolls neuem Stück "Lavagem" sind allesamt in den überfüllten Favelas der brasilianischen Metropole Rio de Janeiro geboren.

Foto: Renato Mangolin

"#MascaraSalva": Projektionen auf die Christus-Erlöser-Statue von Rio de Janeiro als Aufrufe zum Schutz vor Covid-19.

APA / AFP / Mauro Pimentel

Angenehmes Wetter in Rio de Janeiro, sonnig und mild mit einigen Wolken. Ein Blick aus dem Wohnungsfenster der brasilianischen Choreografin Alice Ripoll zeigt modernes Vorstadtambiente, im Hintergrund bewaldete Hügel des Tijuca-Nationalparks. An einem seiner Hänge kleben hunderte Häuschen einer Favela. In Wien sitzend aus einem Fenster in Rio schauen zu können, das ist die neue Normalität.

In krassem Gegensatz zu diesem Ausblick stehen die Aussichten für die Bevölkerung. "Ich mache mir Sorgen wegen der Situation hier in Brasilien", sagt Ripoll. "Die Nachrichten sind nicht gut." Weil Präsident Jair Bolsonaro in Covid-19-Zeiten so gerne Kinder umarmt? "Das tut er jedes Wochenende, wenn er Kundgebungen seiner Unterstützer besucht. Er ermutigt zu Versammlungen und lässt Selfies mit sich machen. Er ist ein total verrückter Mann."

Mythos für junge Militärs

Nun beginnen auch Teile des Militärs, sich gegen ihn zu stellen. Die Unterstützung für Bolsonaro sinke zwar, berichtet Ripoll, und "nicht alle in der Armee teilen seine Haltung" bezüglich der Versammlungen. Doch vor allem für junge Militärs sei der Präsident zum Mythos geworden, eben wegen seiner Verrücktheit und seiner Art, zu sagen, was ihm gerade in den Sinn kommt.

Möglicherweise wird es zu einem Amtsenthebungsverfahren oder zum Rücktritt kommen, aber das könnte dauern, doch "in der Zwischenzeit sterben, sterben, sterben die Menschen an Covid-19!". Es gebe viele ernste Probleme im Land: "Unsere Spitäler waren nie in gutem Zustand." Wer sich in Rio ein privates Krankenhaus leisten kann, ist definitiv im Vorteil.

Die öffentlichen Krankenhäuser sind so überlastet, dass die Leute Schlange stehen müssen. Das zeige noch einmal, so Ripoll, "dass die ökonomischen und sozialen Unterschiede im Land dessen größte Probleme darstellen". Die soziale Ungleichheit hat die Verbreitung des Virus gefördert: "Das Tempo der Verseuchung ist bei uns viel höher als in Europa. Reiche Leute reisen oft dorthin, daher ist das Virus schnell zu uns gekommen." Die breiten armen Schichten leben in schlechten Wohnverhältnissen. Viele Menschen auf engem Raum in kleinen Häusern, ohne sanitäre Anlagen, kein Geld für Desinfektionsmittel oder auch nur Seife.

Alice Ripoll kennt das Leben in den Favelas von Rio, weil sie mit Tänzern arbeitet, die aus diesen Slums kommen. "Ihnen geht es gut, aber in Quarantäne leben zu können, das ist hier ein Privileg." Die Regierung verteile zwar Geld, aber das erreicht nicht alle. Man braucht eine App dafür, aber viele Leute haben kein Smartphone – "es ist ein völliges Chaos."

Am Stichtag 11. Mai gab es rund 168.000 Infektionen und über 11.500 Covid-19-Tote in Brasilien. Die wirklichen Zahlen seien aber nicht bekannt, sagt Ripoll, weil auch nicht viel getestet werde. Also seien die Dunkelziffern sehr hoch. Einer ihrer Tänzer habe gemeint, dass es immer noch mehr Tote bei Schusswechseln in seiner Favela gebe als durch das Virus.

Schusswechsel flauen ab

Die für die Favelas zuständigen Polizeikräfte unterstehen dem Bundesstaat Rio de Janeiro, der von Gouverneur Wilson Witzel vom fundamentalistisch-evangelikalen Partido Social Cristão regiert wird. Unter Witzel "nahmen die Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und den Drogenhändlern zu", aber jetzt seien diese Kämpfe etwas abgeflaut, berichtet die Choreografin.

Außerhalb von Rio ist der Bundesstaat Amazonas überraschend stark betroffen. In Amazonas’ Hauptstadt Manaus kam es bereits Ende April zum Zusammenbruch des Krankenhaus- und Bestattungssystems.

Todesopfer werden in Massengräbern beigesetzt. Auch die indigene Bevölkerung ist als Minorität zunehmend von Covid-19 betroffen. "In den ärmsten Gegenden sterben im Verhältnis mehr Menschen", stellt die Künstlerin fest. Der Höhepunkt der Erkrankungen soll Medienberichten zufolge nun im Mai erreicht werden.

Die neue brasilianische Kulturstaatssekretärin Regina Duarte (73), eine populäre Telenovela-Schauspielerin, sei seit Beginn der Epidemie von der Bildfläche verschwunden. Grund zur Besorgnis für die Künstler des Landes. Es gebe Unterstützung für einige, aber lediglich je etwa 100 Euro, und zusätzlich Kleinbeträge von diversen Kulturvereinigungen.

Alice Ripoll sollte jetzt eigentlich gar nicht zu Hause sein, sondern auf einer großen Tournee. Diese hätte auch nach Wien geführt, wo sie bei den Festwochen ihr Stück "Lavagem" zeigen wollte. Anfang Mai wäre die Uraufführung in Brüssel gewesen.

Wegen ihrer Verbindungen zu Europa ist die Lage für Ripoll besser als für viele ihrer Kollegen. Von etlichen Organisationen wird sie eingeladen, Beiträge ins Internet zu stellen, und bekommt dies auch honoriert.

Staatliche Subventionen erhalten die beiden Tanzcompanys – Cia REC und Cia Suave –, die Ripoll leitet, nicht, weder vom Staat Brasilien noch von der Stadt Rio. "Keine Unterstützung. Wir sind völlig unabhängig", stellt Ripoll trocken fest.

Nur zum ersten Stück der Cia Suave kam etwas Geld von einem brasilianischen Tanzfestival. "Wir leben davon, unsere Stücke zu verkaufen", also von Aufführungen und Tourneen.

Der Inhalt der Tanzperformance "Lavagem" ("Waschen") ist politisch: Wer reinigt wessen Wohnungen, Büros und Straßen, welche Art von Körpern werden als "schmutzig" abgewertet – weißer Seifenschaum auf farbiger Haut: Wer ist "dirty", was ist "clean"?

Das Stück wirkt wie zugeschnitten auf die derzeitigen Desinfektionsrituale.

"Ein verrückter Zufall", meint Ripoll. "Die Idee kam Anfang des Vorjahres von einem unserer Tänzer, und wir haben Ende November mit der Entwicklung des Stücks begonnen. Es geht wirklich um Reinigung, Zusammensein und Feiern."

Unbewusster Bilderfluss

"Lavagem" hatte ursprünglich keinerlei Verbindung mit Covid-19, "aber jetzt müssen wir das Stück mit neuen Augen betrachten". Was bleibt, ist das soziale Thema: Wer in einer Favela geboren ist, lebt fern von Mobilität oder höherer Bildung.

Ripoll selbst hatte Glück. Sie befand sich in einer Ausbildung zur Psychoanalytikerin, bevor sie sich für den Tanz entschied und die Universität verließ.

Ein Freundeskreis von damals ist ihr geblieben, mit dem sie sich im Austausch – auch über ihre künstlerischen Arbeiten – befindet. "Diese Reflexionen sind mir sehr wichtig. Und ich selbst gehe sicherlich bereits seit zwanzig Jahren zur Psychoanalyse."

Daher messe sie ihren Träumen oder auch dem "unbewuss ten Fluss von Bildern oder Gedanken große Bedeutung bei". Das macht einen wichtigen Aspekt ihres Schaffens aus.

Zum Thema Klimawandel zeigt die Choreografin eine gewisse Distanz. Ja, mit Bolsonaro sei der Schutz der Umwelt eingebrochen, wegen dessen Verbindungen zur Agrarindustrie.

Aber hier stößt die Künstlerin an ihre Kapazitätsgrenze. "Zwei Tanzcompanys, die eine mit sechs, die andere mit zehn Tänzern, ein vierjähriger Sohn und eine kleine Tochter … also, ich muss wählen, worauf ich mich konzentrieren kann."

Sie lächelt etwas verlegen. Die vielen sozialen Probleme Brasiliens ziehen ihre Aufmerksamkeit auf sich, und "sie sind dringlicher für mich". Jair Bolsonaro habe, berichtet sie abschließend, viel Geld von Universitäten abgezogen. Jetzt, in der Covid-19-Krise, könne man sehen, wie wichtig wissenschaftliche Forschung sei. (Helmut Ploebst, 5.6.2020)