Ethikunterricht bloß für Religionsunterrichtsverweigerer, das geht für Eytan Reif gar nicht. Im Gastkommentar beklagt der Mitinitiator und Sprecher des Volksbegehrens "Ethik für alle", dass die Grünen den ursprünglich türkis-blauen Gesetzesentwurf für Ethikunterricht nach der Begutachtung im Parlament aus Koalitionsräson wohl durchwinken werden.

Es ist fast vollbracht: Ein knappes halbes Jahrhundert nachdem in Deutschland mit der Einführung eines Ethikunterrichtes begonnen wurde und nach einem Vierteljahrhundert der Diskussionsverweigerung, einer darauffolgenden mutwilligen Verschleppung, politischer Blockade und einem anschließenden Stillstand infolge eines Regierungssturzes wurde am Freitag die gesetzliche Verankerung eines Ethikunterrichts auch in Österreich in Begutachtung geschickt. Sollte, anders als vor einem Jahr, nichts mehr im letzten Moment schiefgehen, wird Sebastian Kurz noch im Juni die politische Umsetzung eines der ideologisch bedeutungsvollsten Projekte der ÖVP feiern können.

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Ethikunterricht für Religionsverweigerer kommt demnächst. Kritiker fordern Ethik hingegen als Schulfach für alle.
Foto: dpa / Karl-Josef Hildenbrand

Zeitgleich werden auch am Sitz der Katholischen Bischofskonferenz Österreichs in der Wiener Rotenturmstraße die Sektkorken knallen. Schließlich hat ja das oberste Organ der römisch-katholischen Kirche in Österreich im März 2009 die Einführung eines Zwangsethikunterrichts ausschließlich für Religionsverweigerer in Auftrag gegeben. Was damals galt, gilt heutzutage erst recht, nämlich Abmeldungen vom Religionsunterricht weniger schmackhaft zu machen. Die frohe Botschaft lässt sich halt nicht immer ganz zwangsfrei verkünden. Dass dieser fromme Wunsch ausgerechnet dank grüner Unterstützung in Erfüllung gehen wird, ist allerdings ein Treppenwitz der Geschichte.

Bedenkliches Entweder-oder-Modell

Dieses verfassungsrechtlich bedenkliche Entweder-oder-Modell der Regierung stellt eine grobe Verletzung der Religionsfreiheit aller, die keine religiöse Erziehung erhalten möchten, dar, ist einer pluralistischen – und weitgehend säkularen – Gesellschaft nicht gerecht. Das wurde schon oft erwähnt. Weit weniger Aufmerksamkeit hingegen erhält die Tatsache, dass dieses Modell auch Schülerinnen und Schüler benachteiligt, die aufgrund ihrer religiösen Überzeugung – oder auch infolge einer weniger reflektierten religiösen Sozialisation – einen Religionsunterricht besuchen. Schließlich wird ihnen verwehrt, einen weltlichen Ethikunterricht zu besuchen, in dessen Rahmen über Gott und die Welt ergebnisoffen diskutiert wird. Schülerinnen und Schülern aus bildungsfernen und am Rande der Gesellschaft lebenden Familien wird ein wichtiges Integrationsinstrument verwehrt und der spätere soziale Aufstieg erschwert werden. "Kein Kind darf zurückgelassen werden" ist schon seit Jahren die zentrale bildungspolitische Botschaft der Grünen; mit der Unterstützung des kirchlich geforderten Ethikunterrichtsmodells konterkarieren sie aber genau dieses hehre Ziel.

Grüner Sanktus

Nach jahrzehntelanger politischer Arbeit hat diese Partei es geschafft, ein Saubere-Hände-Image – sowohl politisch als auch strafrechtlich betrachtet – aufzubauen und darüber hinaus eine ideologische Geradlinigkeit in politischen Kernfragen auch jenseits des eigenen USP, also des Umweltschutzes, zu etablieren. Eine sozialbewusste Politik in einem säkularen Rechtsstaat, in dem die Wahrung der Menschenrechte oberstes Gebot ist und wo die gesellschaftliche Inklusion nicht nur gepredigt, sondern auch gelebt wird – auch das ist schon längst typisch grün.

Nach Abschluss des traditionellen Begutachtungsrituals werden die Grünen dennoch geschlossen für die von der ÖVP diktierte Änderung des Schulorganisationsgesetzes und somit für einen Ethikunterricht als "Ersatzpflichtgegenstand für den Religionsunterricht" stimmen. Infolge des grünen Sanktus werden nicht nur die Religionsgemeinschaften erstmals gesetzlich ermächtigt werden, eine Kernaufgabe des Staates im Bildungsbereich zu erledigen; ein gemeinsamer Ethikunterricht für alle Schülerinnen und Schüler – ungeachtet ihrer konfessionellen Zugehörigkeit oder anderer Unterscheidungsmerkmale – wird zudem in weiterer Folge auch langfristig verhindert werden.

Krasser Widerspruch

Ob der positive Beitrag der Grünen in Sachen Umweltschutz auf globaler Ebene selbst mithilfe der empfindlichsten Messgeräte je quantifizierbar sein wird, ist zu bezweifeln. Die politischen, rechtlichen und gesellschaftlichen Auswirkungen des bevorstehenden grünen Sündenfalls werden in Österreich hingegen weitreichend und nachhaltig sein. Und sie werden in krassem Widerspruch zu dem stehen, was die Grünen seit Jahren vertreten haben. Mit der Unterstützung eines diskriminierenden Zwangsethikunterrichts ausschließlich für Religionsverweigerer werden die Grünen demnächst endgültig ihre Unschuld verlieren. (Eytan Reif, 26.5.2020)