Seit Wochen rennt sie durch die Stadt. Robert Klemmers Plakatfigur im grün-gelb gestreiften Anzug ist der Bote der neuen Albertina Modern, die im März pompös hätte eröffnet werden sollen. Dann kam Corona. Fast 80 Tage später wird sie es endlich – ohne Pomp.

Österreichische Abstraktion: Markus Prachensky (Bild) und Zeitgenossen wie Josef Mikl und Wolfgang Hollegha zertrümmerten die Traditionen.
Foto: Albertina, Wien – Brigitte Prachensky

So hatte sich Klaus Albrecht Schröder den Start seines Prestigeprojekts der Albertina-Dependance nicht vorgestellt. Ebenso wenig sein Investor, Hans Peter Haselsteiner, der 57 Millionen Euro für die Renovierung des Künstlerhauses am Wiener Karlsplatz zahlte. Am neu restaurierten Standort, an dem sich auch die Künstlervereinigung befindet, wird auf einer Ausstellungsfläche von 2000 Quadratmetern österreichische und internationale Gegenwartskunst nach 1945 gezeigt, allen voran die Kunstsammlung Essl.

40 Prozent davon gingen 2018 als Schenkung an die Albertina über, Haselsteiners Anteil von 60 Prozent wird als Dauerleihgabe bis 2044 an das Bundesmuseum verliehen. Ein von vielen Seiten kritisiertes Vorhaben: Vielen gilt die mit Steuergeld wertgesteigerte private Dauerleihgabe als umstritten. Doch die Politik sprach von einer "Win-win-Situation" – Schröder inszenierte sich und den Großmäzen als Retter der Sammlung.

Etwa die Hälfte der knapp 400 gezeigten Werke stammen aus der Sammlung Essl, so auch Maria Lassnigs Woman Power.
Foto: Albertina Wien / Peter Kainz

Kunst der Stunde Null

Nun sind etwa 200 Werke daraus in der Debütschau The Beginning. Kunst in Österreich 1945 bis 1980 zu sehen, die Schröder mit einem fünfköpfigen Kuratorenteam jahrelang konzipiert hat. Es soll eine vernachlässigte Epoche der heimischen Kunstgeschichte beleuchtet werden, galt österreichische Nachkriegskunst bis in die 1970er-Jahre ja vielen als "entartet". Mit Werken von 74 Künstlern wird ein umfassender Überblick über die Erneuerer jener Zeit gegeben, die mit ihrer Kunst gegen Autoritäten ankämpften und dafür sorgten, dass die Schrecken der Vergangenheit nicht in Vergessenheit gerieten.

Diese treten gleich zu Beginn in Erscheinung: Bei Ernst Fuchs werden Gliedmaßen zerschnitten, Bruno Gironcolis Installation Großer Broncetisch schreit einem die NS-Gräuel förmlich entgegen, und aus Walter Pichlers Bettgestell ragen Glasscherben. Das Thema des Dritten Reichs sei zentral, sagt Schröder, und ziehe sich – nicht immer sichtbar – durch die gesamte Schau. Die Stunde Null steht für den Anfang von The Beginning.

Der erste – ganz in Blau gehaltene – Raum führt in eine "Sackgasse", merkt Klaus Albrecht Schröder an. Hier vor einem surreal anmutenden Werk von Rudolf Hausner.
Foto: APA/GEORG HOCHMUTH

Aktionisten bis feministische Avantgardistinnen

Von hier an gehen die prall gefüllten Säle auf zwei Etagen ineinander über und gliedern sich in 13 Kapitel. Die parallel existierenden Strömungen werden als solche gruppiert. So finden sich Abstrakte wie Wolfgang Hollegha und Josef Mikl sowie Wiener Aktionisten jeweils prominent zusammen. Bei diesen wachsen Fernsehapparate mit Otto Muehls Aktionen sowie eine Gerümpelplastik von Adolf Frohner aus einer silbernen Wand, ringsum riesige Schüttbilder von Hermann Nitsch.

Anschließend begegnet man bunter Pop-Art bei Christian Ludwig Attersee und Kiki Kogelnik, Werken der Art Brut aus Gugging sowie geometrischer Abstraktion in Rot-Blau von Roland Goeschl. Bedeutenden Einzelgängern wie Maria Lassnig, Günter Brus oder Hundertwasser sind eigene Kapitel gewidmet. Für Arnulf Rainer gibt es einen "Tempel", wie ihn Schröder nennt. Eine gelungene Treppeninstallation lockt im Untergeschoss schließlich zu Valie Export und den feministischen Avantgardistinnen. Ein schöner Abschluss, wenngleich etwas in die Ecke gedrängt.

Pop-Art made in Austria: Kiki Kogelnik verarbeitete Massenkonsum, Atombombe und Mondlandung in ihren Werken. Hier: Untitled (Bomb) von 1964.
Foto: Kiki Kogelnik Foundation / Fred Dott

Emanzipation der Tochter?

Dass der edukative Ansatz und die ästhetische Präsentation stark an das Albertina-Mutterhaus erinnern, war eine bewusste Entscheidung, sagt Schröder. Zwar ist sie mit Skulpturen und Fotografie multimedial, dennoch wären mehr Video- oder Rauminstallationen spannend gewesen. Die Ausstellungen in der Tochtereinrichtung wollen aber nachvollziehbar bleiben und keine Rätsel aufgeben – dies soll sie von anderen Museen moderner Kunst unterscheiden, sagt Schröder. Zugegeben enttäuscht dies etwas, hatte das Suffix "Modern" doch an die Londoner Tate Modern und somit an mutigere Zugänge denken lassen. Vielleicht findet die Emanzipation noch statt.

Insgesamt beeindruckt die Ausstellung aber durch ihre Üppigkeit der 360 Werke, wobei etwa die Hälfte aus der Essl-Sammlung stammt. Der Rest wird von zahlreichen Leihgebern geborgt, unter anderem dem Wien-Museum. Zwischen den großen Erneuerern lässt die Schau auch Platz für unbekanntere weibliche Namen wie Ida Szigethy, Dóra Maurer oder Auguste Kronheim, "die ans Tageslicht gezerrt werden mussten", sagt Schröder.

Mutter wie Tochter: Die ästhetische Inszenierung der Ausstellung in der Albertina Modern orientiert sich bewusst an jener im Stammhaus. Zu sehen: Werke von Robert Klemmer.
Foto: Albertina Modern / Rupert Steiner

Verfremdung durch Anglizismen

Die Schau setzt sich das Ziel einer Definition des Kanons österreichischer Kunst der Nachkriegsjahrzehnte. Dabei werden jene Positionen betont, die zur Erneuerung dieser beitrugen. Die Eröffnungsschau – und ihre für 2021 geplante Fortsetzung The Eighties – will zur internationalen Bedeutung der Epoche beitragen, wobei die englischen Titel dabei behilflich sein und verfremden sollen. Vielleicht aber auch, um das touristische Publikum anzusprechen.

Wenn dieses wieder anreisen darf, werden die neuen Hallen bereits warten. So auch das Original von Klemmers Läufer – der Bote hat seine Aufgabe erfüllt. (Katharina Rustler, 26.5.2020)