Es war eine Sensation und für viele wohl ein kleiner Schock, als ein Team um den schwedisch-deutschen Paläogenetiker Svante Pääbo vor ziemlich genau zehn Jahren bekannt gab, dass die heute lebenden Menschen DNA des Neandertalers besitzen –jedenfalls die, die außerhalb Afrikas leben. Das bedeutete unter anderem, dass es nach der Auswanderung der ersten modernen Menschen nach Europa und Asien zu Paarungen zwischen diesen und den Neandertalern kam, woraus fruchtbarer Nachwuchs hervorging – eben mit Neandertaler-DNA.

Seit März 2010 wird nun auch erforscht, welche Gene wir uns im Speziellen mit den Neandertalern teilen bzw. mit den Denisovanern, einer anderen Menschengruppe, die ebenfalls mit modernen Menschen Kurzweil trieb.

Wann der Genfluss zwischen Neandertaler und modernem Mensch stattfand: Die Neandertaler-DNA in heute außerhalb Afrikas lebenden Menschen stammt aus einer Vermischung vor 47.000 bis 65.000 Jahren (grüner Pfeil). DNA moderner Menschen im Neandertaler ist wahrscheinlich das Ergebnis eines früheren Kontakts zwischen beiden Gruppen vor etwa 100.000 Jahren (roter Pfeil).
Illistration: Ilan Gronau/MPG

Heute geht man davon aus, dass insgesamt rund 40 Prozent der Neandertaler-DNA in Menschen weiterlebt. Freilich besitzen die meisten von uns bloß ein bis zwei Prozent davon im Genom. Einige dieser Variationen sind eher ungünstig, viele aber günstig: So dürfte Neandertaler-DNA mutmaßlich zu einer besseren morphologischen Anpassung von Haut und Haar unter außerafrikanischen Umgebungsbedingungen geführt haben.

Der durchschnittliche Anteil der Neandertaler-DNA je nach Weltregion.
Illustration: MPG

Nicht zuletzt durch die hohe genetische Übereinstimmung hat sich in den letzten Jahren auch unser Bild vom Neandertaler verändert. Eine gute Zusammenfassung dieser neusten Erkenntnisse liegt seit kurzem auch in Buchform vor: Die französische Paläoanthropologin Silvana Condemi und der Wissenschaftsjournalist François Savatier zeichnen in "Der Neandertaler, unser Bruder" ein äußerst menschliches Bild von den Fähigkeiten unseres ausgestorbenen Verwandten.

Der Neandertaler kommt uns in diesem Buch ziemlich nahe: Silvana Condemi und François Savatier, "Der Neandertaler, unser Bruder", € 18,50/240 Seiten, C.H. Beck, München 2020.

Im letzten Kapitel der lesenswerten Neuerscheinung, die auf Basis neuer Erkenntnisse mit dem Vorurteil der grobschlächtigen Dumpfbacke aufräumt, geht es auch um die Neandertaler-DNA, und in diesem Feld gibt es abermals eine spannende Neuigkeit zu vermelden.

Svante Pääbo, einer der Direktoren des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie in Leipzig, hat nun mit Kollegen entdeckt, wie das Erbe der Neandertaler in heutigen Frauen weiterlebt. Sie fanden nämlich heraus, dass viele Europäerinnen den Rezeptor für Progesteron – ein Hormon, das im Menstruationszyklus und in der Schwangerschaft eine wichtige Rolle spielt – von Neandertalerfrauen geerbt haben.

Jede dritte Europäerin ist betroffen

Konkret zeigten Analysen von Biobankdaten von mehr als 450.000 Menschen, darunter 244.000 Frauen, dass fast jede dritte Frau in Europa jenen Progesteronrezeptor in sich trägt, der von Neandertalern stammt. Konkret besitzen 29 Prozent ein Exemplar der Neandertalervariante im Genom, und drei Prozent beide Exemplare. Frauen, die diese Variante aufweisen, haben im Normalfall weniger Blutungen zu Beginn der Schwangerschaft und weniger Fehlgeburten. Zudem bringen sie mehr Kinder zur Welt.

Der von den Neandertalern geerbte Progesteronrezeptor bringt heute lebenden Schwangeren Vorteile.
APA/dpa-tmn/Mascha Brichta

"Der Anteil der Frauen, die dieses Gen geerbt haben, ist etwa zehnmal so hoch wie bei den meisten anderen Neandertaler-Genvarianten", sagt Hugo Zeberg, Forscher am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie und am Karolinska Institutet, der Erstautor der Studie, die im Fachblatt "Molecular Biology and Evolution" erschien. Der Progesteronrezeptor ist für ihn ein weiteres Beispiel dafür, "wie günstige genetische Varianten, die durch die Vermischung mit Neandertalern auf den modernen Menschen übertragen wurden, Auswirkungen auf heute lebende Menschen haben können". (tasch, 30.5.2020)