Sie schreibt engagierte Literatur: Sabine Scholl.

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Als Odysseus die Unterwelt aufsucht, zählen für ihn nur die Helden", schrieb Sabine Scholl bereits 2013 in ihrem Roman Wir sind die Früchte des Zorns (Secession). "Über die Töchter und Mütter der heroischen Helden weiß er nicht viel." Aus dem Odysseus-Stoff hat sie nun ein völlig neues Gewand genäht: ein Patchwork aus antiker Mythologie und modernem Gesellschaftsroman. Und sie hat das Ganze auf links gedreht: Odysseus ist hier eine Frau – O. Ein Buchstabe, der das andere Geschlecht gut repräsentiert, als Loch und Leerstelle.

Tatsächlich spielen die Kleidung und ihre Stofflichkeit im Roman eine hervorgehobene Rolle: Es gibt Rettungswesten und Jogginganzüge, massenhaft Flipflops, strahlend weiße Gewänder und schwere Wolle. Es ist nicht fernliegend, dabei an Elfriede Jelineks großartige Bestandsaufnahmen zur Mode zu denken, die in einem Essay schrieb: "Ist die Mode für mich ein Halt, mit dem ich mich auf der Erde fixieren kann, weil ich sonst nichts verstehe?"

Sabine Scholls Romanfiguren fehlt es auch an Halt. Aus der Irrfahrt des Odysseus macht sie eine Fluchtgeschichte, die Schiffe sind Rettungsboote. An Bord sind geflüchtete Frauen, auf der Suche nach einem Ort, wo es heißt: "No strangers here – just future friends." O. selbst ist in einer privilegierten Position, sie besitzt einen Reisepass, der ihr Pforten öffnet, nicht verschließt. Als sie sich zu Beginn des Romans von ihrem anbetungswürdigen, aber etwas faden Liebhaber Calypos davonschleicht, hört die Musikerin O. die Gesänge der Frauen, die etwas entfernt auf eine Gelegenheit zur Weiterfahrt warten.

Female Solidarity!

Mit einem Trick bringt sie Calypos – der nichts anderes will, als dass die Fremden schnell wieder verschwinden – dazu, den "Geschmuggelten" ein Boot zu besorgen. Als der Geliebte schläft, stiehlt O. sich davon, unter dem wachen Blick ihrer Beschützerin Atena, und geht mit an Bord.

Wie jede Fluchtgeschichte ist auch diese voller Gefahren. Dabei ist die unruhige See noch die geringste – es sind eher die Menschen, die falsche Versprechen machen und ein Geschäft mit der Not der Fliehenden machen, mit anderen Worten: die Schlepper. Die Auseinandersetzung mit der Frage, wie wir mit Schutzsuchenden umgehen, ist in den letzten fünf Jahren nicht weniger dringlich geworden. Umso wichtiger ist es, dass Scholls Roman sich nicht auf die desolaten und lebensbedrohlichen Facetten der Erzählungen beschränkt, sondern bei alldem auch kühn utopisch ist – indem die Autorin zeigt, wie stark alle Seiten von gelebter Solidarität profitieren – und auch, wie wichtig Solidargemeinschaften gerade für Frauen sind. Solche Erzählungen fehlen nämlich ganz entscheidend: das Denken anderer Möglichkeiten und die Vision von einem besseren Leben, das nur durch ein besseres Zusammenleben entstehen kann.

Klare Haltung

Nausikaa wäscht in Homers Original am Fluss die Wäsche, als sie dem schiffbrüchigen Odysseus begegnet. In Scholls Fassung bringt Nausikaa dagegen ihren acht verzogenen Söhnen bei, wie man die Waschmaschine bedient. Ähnlich didaktisch ist auch der gesamte Roman: Man merkt, der Autorin geht es um was, und sie legt Wert darauf, dass wir Lesenden das auch überreißen. Dass es sich hier um engagierte Literatur handelt, die politisch und moralisch klar Haltung bezieht, liegt auf der Hand.

Themen wie die Position der Frau in einer Gesellschaft, die von Männern gestaltet wird und Männern den Vorzug gibt, ziehen sich durch Scholls Werk. Und die Ruhelosigkeit unsteter Frauenbiografien spielt immer wieder eine Rolle, das Reisen, vielleicht auch die (mehr oder weniger von außen erzwungene) Entscheidung, geografische und familiäre Wurzeln zu kappen. Zuletzt hat sie das in ihrem teils in Sri Lanka angesiedelten Roman Das Gesetz des Dschungels (Secession 2018) getan, und in ihrem heuer erschienen Essayband ist der Titel programmatisch für das ganze Werk: Erfundene Heimaten heißt die Sammlung (Sonderzahl). (Jana Volkmann, 28.5.2020)