Im Alter von 13 Jahren begann John Stuart Mill seine Laufbahn als Ökonom und wurde einer der einflussreichsten Denker des 19. Jahrhunderts, und: depressiv.

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Wenn die letzte Kolumne geschrieben, mein letzter Arbeitstag für die Weltwirtschaft verrichtet, meine Pension verlebt, mein letzter Scherz gemacht und meine letzten Freunde die Erinnerungen an mich in deren Grab mitgenommen haben, dann wird nur noch sie da sein, die der Welt Zeugnis über meine dann schon verrottete Existenz ablegt: meine Tochter. Es wird ein Zeugnis der verpassten Möglichkeiten und unausgeschöpften Potenziale sein. Bereits jetzt, mit ihren frischen 16 Monaten, habe ich ihr Leben versaut.

Nicht falsch verstehen, sie ist super. Sie kann gehen, klettern, spricht ein paar Wörter, spielt Mundharmonika, klimpert am Klavier, ist gestern das erste Mal alleine (!) gerutscht, macht sich nützlich, putzt alles, was sie in die Hände bekommt, isst fleißig und alles, ist durchschnittlich aggressiv zu Gleichaltrigen und überdurchschnittlich freundlich zu Erwachsenen. Aber zu Großem wird sie es wohl nicht bringen, ihr Lebenslauf ist jetzt schon lückenhaft.

Kein Baby auf der Überholspur

Den Weg zur Kanzlerin habe ich ihr in den ersten Monaten meiner Karenz verbaut. "Ein Baby auf der Überholspur", wie es Sebastian Kurz laut der offiziellen Biografie des Kanzlers war, hätte schon mit zehn Monaten gehen und unter einem Jahr vollständige Sätze sprechen müssen. Die Ansätze waren da, aber ich habe es verabsäumt, sie auf die Überholspur zu setzen.

Fürs Sprechen war ich einfach nicht der Richtige. Während andere ein paar Bier zum Tanzen brauchen, brauche ich die, um Smalltalk führen zu können. Wie soll ich dann nüchtern mit einem Baby sprechen, von dem, bis auf ein paar Grinser, nichts zurückkommt? Die Taktik jeden Tag zusammen das Ö1-"Mittagsjournal" und kluge Hörbücher zu hören, ging nicht auf. Viel zu spät habe ich im Internet gelesen, dass Stimmen aus der Bluetooth-Box bei der Sprachentwicklung nichts bringen.

Bereits mit einem halben Jahr konnte meine Tochter krabbeln – vielleicht sogar noch vor dem jetzigen Kanzler in diesem Alter. Ein bisschen zu viel Stolz, gepaart mit Zuversicht meinerseits, führten dazu, dass wir aufs tägliche Gehtraining verzichteten. Weil ich dachte, sie wird von selbst gehen, ist Baby-Sebastian an ihr vorbeigezogen.

Wir, also ich für meine Tochter, verzichteten auch aufs Baby-Schwimmen, Baby-Singen, Baby-Yoga, Baby-Massagen und Baby-Seidenmalerei. Kurz habe ich überlegt, ob wir uns einer sogenannten "Prager Eltern-Kind-Programm"-Gruppe anschließen sollten. Dort geht es um "Spiel-, Bewegungs- und Sinnesanregungen", um "themenzentrierte Interaktion", "elterliche Feinfühligkeit" und die "gruppenleitenden Personen" hätten mit uns dann über "Befindlichkeiten, Absichten und Erlebnisse" gesprochen. Aber dann habe ich gehört, dass dort alle Babys nackt sind – das klang doch nach zu viel Scheiße.

Meine Tochter und ich waren vor Corona meistens nur in Spielecafés. Dort konnte sie mit Gleichaltrigen in Bällebädern plantschen und ich mit Gleichaltrigen Kaffee trinken. Weder ihre Spielgefährten noch meine Gesprächspartner haben wir nach deren besonderer Eignung für unsere Entwicklung ausgewählt.

"Wettstreit zur Schaffung eines Genies"

Vielleicht hätte ich einen motivierenden Freund gebraucht, wie Jeremy Bentham es für James Mill war. Die beiden Begründer des Utilitarismus sahen in der Erziehung von Mills Sohn einen "Wettstreit zur Schaffung eines Genies". Die Idee war: Ein Kind, das mehr weiß, hat in einer rationalen Welt Vorteile gegenüber anderen und wird deshalb nicht nur maximal erfolgreich, sondern auch glücklich und zufrieden. Der Kleine, John Stuart Mill, wurde von seinem Vater und dessen Freund mit Wissen vollgestopft. Mit drei konnte er Griechisch, mit zehn Latein, er las Äsops Tiergeschichtchen im Original, mit sieben die ersten Dialoge Platons, lernte auch noch Deutsch und Französisch. Im Alter von 13 Jahren begann er seine Laufbahn als Ökonom und wurde einer der einflussreichsten Denker des 19. Jahrhunderts, und: depressiv.

Spätestens ab da war John Stuart nicht mehr so ganz überzeugt von den Ideen seines Vaters und dessen Freund. Er propagierte die "innere Kultur des Individuums", stand für die freie Entwicklung und Entfaltung der Persönlichkeit. Jetzt wird mir klar: Ich war gar nie zu faul für die Förderung meiner Tochter. Ich bin einfach ein überzeugter Vertreter der Erziehung nach Mill Junior. Meine Tochter ist keine Maschine, "sie gleicht vielmehr einem Baum, der wachsen und sich nach allen Seiten ausbreiten möchte, gemäß der Tendenz seiner inneren Kräfte, die ihn zu einem Lebewesen machen", wie Mill schreibt.

Letztens ist meine Tochter zu mir auf die Couch gekrabbelt, hat sich aus dem Bücherregal ein paar Reclam-Heftln genommen, ist damit über mich drüberstolziert, hat sich in eine Ecke geknotzt und begonnen in "Die Leiden des jungen Werthers" zu blättern. Kann sein, dass ihr innerer Baum schon jetzt Richtung Depression wächst. Weil sie aber die ganze Zeit schelmisch in sich hineinkicherte, halte ich es für wahrscheinlicher, dass sie mich verarscht und sie ein Clown wird. Mit dem Vermächtnis kann ich gut leben, finde ich sogar besser als Kanzlerin.

Peter Sim ist Leiter der Abteilung Datenjournalismus bei "Dossier". Die Ergebnisse seiner bisher längsten Recherche, die seiner Tochter, lesen Sie jeden zweiten Sonntag online im STANDARD, sein Karenztagebuch auf
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