Laut Gesundheitsminister Rudolf Anschober und dem Simulationsexperten Niki Popper (hinten) wurden die Maßnahmen zum richtigen Zeitpunkt gesetzt.

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Man befinde sich derzeit in einem "Präventionsdilemma" oder "Präventionsparadoxon", erklärte Herwig Ostermann, Geschäftsführer von Gesundheit Österreich, am Donnerstag. Das soll heißen: Ein Szenario steht in Aussicht – im aktuellen Fall der Coronavirus-Krise war das die Überforderung des Gesundheitssystems –, und um diesem zu entgehen, werden Präventionsmaßnahmen gesetzt, das Szenario dadurch wiederum verhindert. Die Folge: "Maßnahmen werden als überzogen eingestuft", sagte Ostermann.

Das bekräftigte auch Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne). Viele würden sich aktuell fragen, ob die von der Regierung gesetzten Maßnahmen in dieser Form notwendig gewesen seien – oder ob der Lockdown zu lange über Österreich verhängt wurde, sagte Anschober. Dem setzte das Gesundheitsministerium gemeinsam mit Ostermann und Niki Popper, Simulationsexperte der TU Wien, bei einer Pressekonferenz nun Zahlen entgegen.

Lockdown am 16. März

Der Grundtenor: "Es wurden die richtigen Maßnahmen zum richtigen Zeitpunkt gesetzt." Zur Erinnerung: Am Freitag, dem 13. März, verkündete Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP), dass ab dem folgenden Montag das soziale Leben auf ein Minimum reduziert werde. Noch am selben Tag wurden das Paznaun im Tiroler Oberland sowie die Gemeinde St. Anton am Arlberg in ihrer Gesamtheit unter Quarantäne gestellt. Am 16. März blieben die Geschäfte – bis auf jene des notwendigen täglichen Bedarfs – und die Gastronomie geschlossen. Schüler lernten fortan zu Hause. Der Lockdown zur Eindämmung der Coronavirus-Pandemie hatte begonnen.

Heute könne man sagen: Hätte man sich dazu entschlossen, sieben Tage später zu reagieren, hätte es laut den ersten Modellrechnungen von Popper etwa viermal so viele positive Coronavirus-Fälle gegeben. Zum Höhepunkt der Pandemie Ende März hätte das 40.000 Coronavirus-Infizierte bedeutet. Durch die strikten Maßnahmen konnte die Zahl auf rund 10.000 aktive Fälle reduziert werden, sagte Popper. Und: Statt der realen rund 250 wären laut der Berechnung nur sieben Tage später mehr als 1.000 Intensivbetten benötigt worden. "Hätten wir nicht frühzeitig reagiert, hätte es dazu geführt, dass wir bis an die Grenzen der Möglichkeiten gegangen wären", erklärte Anschober.

Frühere Lockerungen nicht möglich

Ebenfalls berechnete Popper, welche Auswirkungen eine frühere Lockerung der Maßnahmen mit sich gebracht hätte. Am 14. April durften bekanntlich in einem ersten Schritt kleine Geschäfte sowie Bau- und Gartenmärkte öffnen, am 2. Mai folgten alle weiteren Geschäfte, und auch erste Dienstleister durften wieder ihre Kunden empfangen. Mit den Maturanten kehrten am 4. Mai die ersten Schüler zurück an die Schulen, die letzten werden dies erst am 3. Juni tun.

Wären Geschäfte und Schulen bereits am 1. April voll hochgefahren worden, "wäre die Post wieder abgegangen", sagte Popper. Zu diesem Zeitpunkt seien noch zu viele akut infiziert gewesen, erklärte der Experte. Ein großer Punkt im Kampf gegen das Coronavirus: "Das gemeinsame Reduzieren von Freizeitkontakten war enorm wichtig", sagte Popper. Zum Höhepunkt der Pandemie seien diese Kontakte um rund 90 Prozent verringert worden. Wären die Kontakte nur um 50 Prozent reduziert worden, wäre die Kurve weiter angestiegen.

Contact-Tracing als Faktor

All die Maßnahmen seien jedoch zu wenig, würde das Containment infizierter Personen inklusive Contact-Tracing nicht funktionieren, hieß es zudem. Jede Stunde, die auf der Suche nach Ansteckungen eingespart wird, helfe, sagte Anschober. Und: je kürzer die Reaktionszeit, desto mehr Lockerungen könne Österreich aushalten. "Je schneller wir sind, desto besser", sagte Anschober. Und verwies erneut auf seine "24 Stunden"-Vorgabe: Nach Auftreten erster Symptome solle die Hotline 1450 angerufen werden. Bei einem Verdachtsfall solle es nur 24 Stunden dauern, bis der Test, und weitere 24 Stunden, bis das Ergebnis vorliegt.

Ankündigung am Freitag

Für Freitag kündigte Kurz an, die nächste, die "Phase der Eigenverantwortung" vorzustellen. Es gehe dabei darum, "wenige und klare Regelungen" und "so viel Hausverstand wie nur möglich" walten zu lassen, sagte der Kanzler. Dem wollte Anschober am Donnerstag nicht vorgreifen. Noch am Donnerstag hieß es: Man arbeite noch an den Lösungen. Aber: "Das Virus ist nicht auf Urlaub gefahren, es ist nicht weg aus Österreich, sondern nach wie vor da. Wir werden die Strategie der schrittweisen Öffnung weiter fortsetzen." (Oona Kroisleitner, 28.5.2020)