Als im vergangenen Herbst die Einstellung der Österreicherinnen und Österreicher zur Demokratie abgefragt wurde, konnte niemand voraussehen, welche Herausforderungen uns ein paar Monate später erwarten würden. Nach der Zukunft der Demokratie befragt, zeigten sich damals 45 Prozent der Befragten zuversichtlich, 35 Prozent besorgt. Spannend wäre ein aktuelles Stimmungsbild, denn die Pandemie und die Maßnahmen zu ihrer Eindämmung fordern unser Herrschaftsmodell ordentlich heraus. Wir leben in Zeiten einer "demokratischen Zumutung" – so formulierte es die deutsche Kanzlerin Angela Merkel zutreffend.

Weitreichende Eingriffe derzeit noch akzeptiert

Im virusbedingten Ausnahmezustand wurden ansonsten undenkbare Eingriffe in die Grundrechte und die Demokratie möglich. Und sie wurden, bis auf wenige Ausnahmen, von den Bürgern bereitwillig akzeptiert. "Für eine begrenzte Zeit scharen sich die Bürger in Zeiten der Krise hinter der Exekutive. Das wird sich wieder in die andere Richtung entwickeln, denn die Bewältigung der eigentlichen Krise und die damit verbundenen sozialen Spannungen stehen erst an", sagt Sabine Kropp, Politikwissenschafterin und Professorin an der Freien Universität Berlin.

Wachstum und Wohlstand sind stabilisierende Faktoren der Gesellschaft. Infolge der Corona-Krise drohen sie wegzubrechen. Müssen wir unsere Demokratien anpassen oder gar radikal ändern? Und können wir uns die Digitalisierung dabei zunutze machen?
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Die eigentliche Herausforderung für die Demokratie kommt also erst mit der Wirtschaftskrise, deren Ausmaß man derzeit nur erahnen kann. Unser auf Wachstum und breitgestreutem Wohlstand aufgebautes System hat nämlich gleichzeitig auch eine große Schwäche, die in Krisenzeiten sichtbar wird.

Corona-Krise offenbart multiple Systemschwächen

"Der Wert unserer Demokratie ist dadurch bestimmt, was hinten herauskommt, und weniger durch das, was von den Bürgerinnen hineingegeben wird. Es wird kaum danach gefragt, wer sich an öffentlichen Diskussion beteiligt oder wer dazu in der Lage ist", sagt Stephan Lessenich, Professor für Soziologie mit dem Schwerpunkt Soziale Entwicklungen und Strukturen an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Die Legitimität der Demokratie beziehe sich vor allem daraus, was Demokratie "produziert", sagt der Soziologe, und das waren in den letzten Jahrzehnten vor allem materielle Güter: "Wenn die Wohlstandsmaschinerie brummt, dann ist die Demokratie auf der Sonnenseite."

Diese Output-Legitimation der Demokratie ist problematisch und nicht erst seit der Corona-Krise sichtbar. Auch in der Debatte um den Klimawandel gerät die "Wohlstandsproduktion" mit dem Klimaschutz in Konflikt. Damit bekomme die Demokratie ein Problem, sagt Lessenich.

Koevolution in der digitalen Demokratie

Die Demokratie müsse sich wieder mehr für den Input, also für die Beteiligung von unten interessieren. "Der Mensch und Bürger muss eine gestaltende Rolle spielen und nicht lediglich Konsument sein. Alle gesellschaftlichen Bereiche sollen an der Transformation mitwirken können, nicht nur wenige große Unternehmen", fordert Dirk Helbing, Professor für computerbasierte Soziologie an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich.

Helbing setzt auf ein "Update der Demokratie", das in der Digitalisierung notwendig und möglich geworden ist. Das Konzept der digitalen Demokratie, wie Helbing es versteht, lässt Kreativität und Innovation zu und erlaubt nicht nur das, was die künstliche Intelligenz verlangt. "Eine KI kann nur innerhalb bekannter Prinzipien eine optimale Lösung finden. Je mehr Optimierung angestrebt wird, desto mehr Einschränkung resultiert daraus", erklärt Helbing. Das Gegenteil von Optimierung seien Koevolution und Zusammenarbeit in der digitalen Demokratie. Als vielversprechende Variante preist Helbing die Idee der Städte-Olympiaden an. Dieses Bottom-up-Konzept soll Innovationen hervorbringen, die Staatengemeinschaften und multinationale Unternehmen bisher nicht kreiert haben. Die Lösungen, die in den Städten weltweit von Bürgern und Interessenvertretern ausgearbeitet und ausgetauscht werden, seien innovativer, menschennaher und solidarischer, sagt Helbing.

Radikaler Systemwechsel?

In diesem Wettbewerb um die Technologie können wir "eine neue Welt" bauen, sagt der Soziologe und fordert nicht weniger als ein radikal neues System: "Wir müssen die Schockstarre von Covid-19 überwinden und das alte System hinter uns lassen." Wir hätten jetzt die Chance, Technologien zu bauen, die Mensch und Natur dienen und nicht umgekehrt.

Von Chancen einer Systemänderung spricht auch Lessenich. "Jetzt wäre die Gelegenheit, die Verbindung zwischen Wachstumsfetischismus und der Form der Demokratie zu unterbrechen." Der Soziologe und Mitbegründer der Kleinstpartei Mut fordert auch eine Debatte über die Demokratisierung der Arbeit. Jetzt müsse man endlich über die strukturellen Probleme reden und nicht bei den Ansteckungsgefahren am Arbeitsplatz stehenbleiben. "Wenn wir schon einmal über die Arbeit an der Supermarktkasse, in der Pflege oder in der Fleischindustrie reden, dann ist das die Chance, zu skandalisieren und dauerhaft etwas zu ändern."

Besonders optimistisch hinsichtlich einer tatsächlichen Veränderung ist Lessenich nicht: "Jetzt wird es vermehrt Bestrebungen geben, den unterbrochenen Wachstumspfad wieder fortzusetzen, Verteilungs- oder Umweltfragen werden hintangestellt."

Dass die Corona-Krise der optimale Augenblick für radikale Änderungen ist, glaubt auch Kropp nicht: Den Bürgern könne man jetzt keine radikale Pfadumkehr zumuten, man könne ihnen nicht noch mehr Unsicherheiten aufladen in diesen unsicheren Zeiten der Pandemie. (Olivera Stajić 29.5.2020)