Wenn es um Rassismus gegen Schwarze geht sind die Schuldigen meist schnell gefunden: Die Anderen. Dieser Reflex hat viele Gründe. Zum einen dient er dazu, das Individuum rein zu waschen und die oft schmerzhafte Auseinandersetzung mit sich selbst und den eigenen, internalisierten Vorurteilen und Rassismen zu verhindern. Man könne doch gar nicht rassistisch sein – schließlich mag man Morgan Freeman, äthiopisches Essen und habe „afrikanische" Freunde. Darüber hinaus verhilft dieser Reflex dem Individuum aber auch dazu, unsanfte Wahrheiten und Realitäten anderer auszublenden. Die Auswirkungen von strukturellem Rassismus auf als „anders“ markierte Menschen, manifestiert sich nicht nur bei der Arbeitssuche, Wohnungssuche, im Bildungssystem und in anderen Lebensbereichen, sondern ist schlichtweg tödlich, wie auch das jüngste Beispiel des von einem US-Polizisten ermordeten Schwarzen, George Floyd, zeigt.

Der Reflex, Rassismus immer nur bei Anderen zu sehen, resultiert aus einer engen, gesellschaftlich-konsensualen Rassismus-Definition (die übrigens in der Wissenschaft schon längst erweitert und ausdifferenziert wurde), die viele mit Sklavenhandel, „Rassen“-trennung und generell biologistisch argumentierter Ungleichheit assoziieren. Dabei ist diese Rassismus-Definition auch in westeuropäischen Breitengraden stark von der Erfahrung des Nationalsozialismus geprägt und nicht nur deshalb ablehnungswürdig. So geschieht es, dass selbst Rechtsextreme sich gegen den Rassismusvorwurf wehren. Wenngleich dies auch oft unglaubwürdig und aus unlauteren Motiven geschieht, so indiziert es trotzdem, dass auch jene, die am äußersten rechten Rand stehen, sich der Tatsache bewusst sind, dass Rassismus verpönt ist. Man sollte also meinen, dass Rassismus demnach keine Chance hätte, oder? Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall.

Die Ermordung von George Floyd durch die Polizei - in den USA wird protestiert.
Foto: REUTERS/Lindsey Wasson

Böser Rassismus – nicht so böser Rassismus

Jener Rassismus, der gesellschaftlich abgelehnt wird, ist der brutale, offen kommunizierte Rassismus der Anderen, der sich mit dem engen Rassismusbegriff deckt, von dem man mal in der Schule etwas gehört hat. Ein Politiker etwa, der offen sagt, dass Schwarze weniger wert sind als Weiße, würde sogar in Österreich für Furore sorgen. Politiker aber, die ganze Minderheiten angreifen, von „systematischer Umvolkung“, „Türkenbelagerung“, Europa als „Wiege der Weißen“ sprechen oder Sujets, mit meist dunkelhäutigen Kriminellen, „anders“ aussehenden Vergewaltigern und kopftuchtragenden Sozialhilfeempfängerinnen – all das bleibt nur zu oft unter dem Radar und sorgt höchstens bei Linken für Empörung.

In anderen Worten: Wird Rassismus nicht so erlebt, wie er – basierend auf dem angelernten Kollektivbewusstsein – auszusehen hat, etwa mit offenen Forderungen nach „Rassen“-trennung und zusätzlicher Arbeit für nicht-Weiße, dann ist er für die Mehrheit der Bevölkerung irrelevant. Schließlich betrifft er „nur“ andere, die dadurch marginalisiert werden. Auch die Tatsache, dass der letzte Schritt dann die Ermordung der „Anderen“ ist, scheint nicht wachzurütteln. Gerade derzeit, rund um den Jahrestag der rassistisch motivierten Anschläge in Solingen, ist es wichtig, darauf hinzuweisen und an die Opfer Gürsün İnce, Hatice Genç, Gülüstan Öztürk, Hülya Genç, Saime Genç zu denken – sie waren nicht die ersten und nicht die letzten, wie auch der Anschlag in Hanau vor mehr als drei Monaten schmerzlich in Erinnerung ruft.

Rassismuserfahrungen schützen vor Rassismus nicht

Wenn also fehlende Betroffenheit, also das Privileg, zu der gesellschaftlich konstruierten Norm – in unseren Breitengraden meist weiß, männlich, heterosexuell – zu gehören, in Verbindung mit oft mangelndem schulisch erworbenem Wissen über Rassismus, zu einer niedrigeren Wahrnehmungs- und Empörungsschwelle in Bezug auf Rassismen führt, dann müsste man annehmen können, dass Betroffenheit, also etwa Erfahrungen mit rassistischen Begegnungen und damit verbundenen Kränkungen, zu mehr Sensibilität und zu einer kompromissloseren Haltung gegen Rassismus führt. Fehlanzeige. Ein Blick auf internationale und nationale Berichte und Zahlen, etwa über die steigenden Übergriffe auf Musliminnen und Muslime oder auch der Blick auf muslimfeindliche, politische Diskurse hierzulande, offenbart die Stimmung gegenüber muslimischen Communitys. 

Aber während der Rassismus, von dem die eigene Gruppe betroffen ist, richtigerweise intensiv thematisiert und angeprangert wird, liegen Tonnen von Erde auf dem Rassismus, den es innerhalb der Communitys gibt. Auch hier sind Zurückweisung und Entrüstung groß, wenn man etwa den Rassismus gegen Schwarze in den eigenen Reihen thematisiert. Schnell werden Erzählungen aus der islamischen Geschichte hervorgebracht, Aussagen des Propheten, die sich gegen biologistisch argumentierten Rassismus richten, Biografien von schwarzen Gefährten des Propheten, etwa Bilal ibn Rabah, der erste, der den Gebetsruf verrichten durfte.
Bloß haben diese Erzählungen mit dem Zustand der aktuellen Gesellschaft und der einzelnen Communitys, genau so wenig zu tun, wie Erzählungen darüber, dass man doch kein Rassist sein kann, weil man Freunde aus Ghana habe.

In beiden Reflexen steckt derselbe Abwehrinstinkt, mit dem Ziel, sich nicht mit dem Rassismus in eigenen Reihen auseinandersetzen zu müssen. Dabei wäre ein genauer, kritischer Blick und darauffolgende Diskussionen dringender denn je. In vielen mehrheitlich arabischen Ländern beispielsweise ist Blackfacing bis heute noch eine gängige Praxis in Komödien. Ich selbst bin mit ägyptischen Filmen aufgewachsen, wo Schwarze immer nur Rollen als Hausbedienstete, Kellner und ähnliches bekommen haben – bis heute hat sich daran nichts geändert. Mehr noch, es gibt auch kaum Diskussionen darüber, weil das Bewusstsein schlichtweg fehlt.

Ein Appell

Diese Ausführungen sollen keinesfalls eine Gleichsetzung oder gar Verharmlosung von jenem strukturellem Rassismus sein, der massive Benachteiligung im Leben Vieler bedeutet und der längst nicht nur individuell bekämpft werden kann sondern auf höchster politischer Ebene angegangen werden müsste. Vielmehr bezwecke ich einen Appell, sich der eigenen Privilegien bewusst zu werden, Rassismus nicht nur in Assoziation mit Sklavenhandel und „Rassen“-trennung zu verstehen und somit nicht sofort von sich zu weisen, sondern zu vergegenwärtigen, dass er allgegenwärtig ist – nicht nur bei „den Anderen“, sondern oft auch in der eigenen Gruppe und dass der kompromisslose Kampf dagegen unabdingbar ist.

In Gedenken an George Floyd – die Erde möge ihm leicht sein und sein Mörder die gerechte Strafe finden. (Rami Ali, 29.5.2020)

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