Szenen eines auf die eigenen vier Wände minimierten Lebens.

: Jakub Kavin

Pünktlich zum erstmöglichen Datum am 29. Mai öffnete das Theater Arche in der lauschigen Münzwardeingasse die Tore zum Foyer. Das bedeutet Selfie-Time! Die Aufregung über den Erstbesuch nach dem Stillstand war spürbar. Aber andererseits auch wieder nicht sehr, da die Distanzregel vorläufig nur schütter besuchte Vorstellungen ermöglicht. Umso mehr applaudierte sich das Publikum spontan selbst, nachdem Impresario Jakub Kavin dieses im Saal begrüßt hatte: "Es ist 75 Jahre her, dass in Österreich länger als zwei Monate die Theater geschlossen waren. Schön, dass Sie alle wieder da sind!" Auch Ulrike Lunacek war gekommen. Die kürzlich zurückgetretene Kunststaatssekretärin erwies sich als Stammgast des Hauses.

Jakub Kavin

Kameras mit dabei

Der berühmte MNS (Mund-Nasen-Schutz) dominierte den Eingangsbereich hin zur Kassa. Und das obwohl sich das Theater Arche gegen Masken und für die Ein-Meter-Distanz-Einhaltung entschied. Aber sicher ist sicher, gerade an den Nadelöhrstellen, die Sitzplätze werden an der Kassa entsprechend zugeteilt.

Kameras filmen mit, es ist aufregend: Die Bar ist geöffnet, konsumiert aber darf nur entfernt davon werden. Die Zeit im Foyer bzw. auf der Gasse reicht manchen kaum, um den aufgestauten Gesprächsbedarf zu decken. Auch das Loben schöner Masken braucht seine Zeit. Tatsächlich gab es ein erstklassiges Exemplar aus schwarzer Spitze zu bewundern. Leicht bedauernd wird die baldige Lockerung der Maskenpflicht debattiert, denn so viele schöne Modelle seien noch gar nie zum Tragen gekommen. Es gibt indes noch Gelegenheiten! Mit Slogans wie "Bleib ned daham!" oder "Wir sind bereit!" machen Theaterbetriebe derzeit ho-ruck-mäßig Stimmung für den ersten Vorstellungsbesuch post Quarantäne.

Kurz vor Shutdown

Jetzt muss es schnell gehen, bis zur Sommerpause bleibt wenig Zeit. Während der überwiegende Teil der Bühnen aus logistischen wie wirtschaftlichen Gründen vor dem Sommer nicht mehr öffnen kann, vermag das Theater Arche die Gunst der Stunde nützen. Denn Hikikomori lag fertig geprobt parat, Uraufführung wäre kurz nach dem Shutdown am 19. März gewesen. Zufällig ist es auch ein Solo, sodass sich Berührungsfragen erst gar nicht stellen. Und zufällig behandelt es auch ein Thema, das mit den Quarantäne-Erfahrungen virulent wurde: soziale Isolation.

Das Phänomen der Hikikomori, also völlig zurückgezogen lebender Menschen, die ihre Wohnung nicht verlassen, ist in Hochleistungsgesellschaften wie Japan verbreitet. Die Lebensform fordert die Kammerspielkompetenzen des Theaters heraus. Toshiko Okada übersetzte diesen "sozialen Hungerstreik" an den Münchner Kammerspielen in poetische Bewegungschoreografien (Vacuum Cleaner). 2006 schrieb Holger Schober ein Stück darüber.

Kapitalistisches Räderwerk

Bei Regisseur Jakub Kavin kommt dieses Leben vorwiegend auf sprachlicher bzw. auditiver Ebene zur Geltung. Darstellerin Manami Okazaki schickt die schlagwortartigen Satzmodule über Mikrofon geloopt als innere Stimmen durch den Raum: "Bewegung ... als Hoffnung". Die kataloghaft gebauten Satzbausteine (Sophie Reyer und Thyl Hanscho) spielen im Aufzählverfahren und mit Minimalverschiebungen.

Sie stehen für ein fragmentiertes Dasein, das – illustriert mit Video-Stills – politisch wird. Wenn auch nicht freiwillig, so entzieht sich Hikikomori doch erfolgreich dem zerstörerischen kapitalistischen Räderwerk. Die Lüftung des Theatersaales ist hörbar auf maximale Lautstärke gestellt, auch das passt zu den Innenklängen eines sich verweigernden Menschen.

Und dann hebt Okazaki mit ihrer Opernstimme noch so etwas wie eine wienerische Hikikomori-Hymne aus der Taufe und singt "Ohne mich wird Frühling sein" von Sophie Reyer. Ende. Applaus. Masken wieder auf. Wenn das kein optimaler Wiedereinstieg ins Theatergeschehen war. (Margarete Affenzeller, 2.6.2020)