Einserschüler Griechenland: Ein Mitarbeiter desinfiziert ein Klassenzimmer vor der Schulöffnung im Land.

Foto: Louisa GOULIAMAKI / AFP

In der letzten Zeit gab es zwei, drei oder höchstens sechs neue Infektionsfälle pro Tag. Griechenland ist so wie viele mittel- und osteuropäische Staaten sehr erfolgreich dabei gewesen, die Coronavirus-Pandemie einzudämmen. Durch die Aussetzung des Fährverkehrs brach Covid-19 auf den allermeisten Inseln gar nie aus.

Die Chefin des Instituts für Epidemiologie an der Universität von Athen, Pagona Lagiou, sagt, die Pandemie selbst sei zurzeit in Griechenland bereits am Verschwinden, doch man müsse wachsam sein. Es gehe vor allem darum, Vorbereitungen zu treffen, um bei der Ankunft von Touristen lokale Ausbrüche zu verhindern. Die Maßnahmen seien jedenfalls deshalb so wirksam gewesen, weil sie mutig und ohne Verzögerung eingeführt wurden. Auch die Krankenhäuser wurden umorganisiert, um die Behandlung der Covid-19-Patienten sicherzustellen.

Auf dem Laufenden halten

"Die Bevölkerung wurde über alle Entwicklungen, sowohl seitens der Wissenschafter als auch der Regierung, informiert", erzählt sie dem STANDARD. "Das hat dazu geführt, dass sie voll kooperiert haben. Das war der Weg zum Erfolg." Ohne diese uneingeschränkte Zusammenarbeit wäre das niemals möglich gewesen. "Die Erfahrung unserer Freunde im benachbarten Italien hat alle in Griechenland tief getroffen", erklärt Lagiou die Beweggründe für die klare Regierungslinie in Athen. Und räumt ein: "Der Erfolg bei der Eindämmung der Epidemie ohne ein Übermaß an Opfern wie in anderen Ländern war eine angenehme Überraschung." Die Griechen hätten sich wirklich vorbildlich verhalten, "und ich kann mir vorstellen, dass dies unsere internationalen Freunde überraschte, die uns hauptsächlich wegen unseres mediterranen Temperaments kennen".

In Athen habe man zudem immer unter der Annahme eines Worst-Case-Szenarios gearbeitet, so die Wissenschafterin. Am wichtigsten sei nun, den Menschen weiterhin mitzuteilen, dass nichts vorbei sei. Denn eines der Hauptprobleme in der Präventivmedizin sei, dass Menschen nach erfolgreichen Interventionen dazu neigen würden, das Problem zu vergessen – dadurch würde der Schutz für sie zurückgehen. Deshalb müssten unbedingt weiterhin Abstands- und Hygienemaßnahmen praktiziert werden. Mit der Wiedereröffnung des Landes wurden nun auch spezielle Verhaltensprotokolle für jeden Aspekt des Lebens (Unternehmen, Schulen, Restaurants, Hotels, Reisen, Tourismus, Museen) eingeführt, um das Risiko einer erneuten Zunahme von Fällen zu minimieren.

Neue Fälle durch Touristen

Lagiou geht davon aus, dass in der Tourismussaison neue Covid-19-Fälle nach Griechenland einreisen werden. Deshalb sei man nun äußerst vorsichtig, um die sofortige Identifizierung, Isolierung und Behandlung potenzieller Fälle zu ermöglichen. "Damit sowohl unsere Touristen als auch die lokale Bevölkerung sicher sind." Eine zweite Welle sei jedenfalls wie in allen Ländern möglich. "Obwohl wir nicht wirklich wissen, wie sich das gute Wetter auf dieses spezielle Virus auswirkt, wird in unserem Teil der Welt eine zweite Welle im Herbst als am wahrscheinlichsten angesehen. Daher ist das Gesundheitssystem auf eine mögliche doppelte Epidemie der saisonalen Grippe und von Covid-19 im Herbst vorbereitet", fügt sie hinzu.

Die Epidemiologin Vana Sypsa von der Universität in Athen meint, dass die Kontaktreduzierung für den Erfolg in Griechenland maßgeblich gewesen sei. So habe man bereits im Februar die Karneval-Festlichkeiten abgesagt. Ab Mitte März wurden neu Einreisende 14 Tage lang getestet und mitunter unter Quarantäne gestellt. Aus einer Umfrage zu sozialen Kontakten, die ein Team an ihrer Universität während der Ausgangssperren durchgeführt hat, ging hervor, dass die Anzahl der täglichen Kontakte in der Bevölkerung im Vergleich zur Zeit vor der Pandemie um ca. 85 Prozent gesunken sei, so Sypsa zum Standard.

Stopp des Inselverkehrs

Ein besonderes Augenmerk habe man zudem auf den Schutz der Bevölkerung auf den griechischen Inseln gelegt. Auf vielen, vor allem den kleineren Inseln, gibt es nämlich wenig Zugang zu Intensivmedizin. Ab dem 20. März durften nur noch ständige Bewohner und Versorgungslastwagen auf die Inseln fahren. Auf den meisten griechischen Inseln gab es deshalb überhaupt keine Infektionen und insgesamt auf allen Inseln weniger als vier bestätigte Covid-19-Fälle pro 100.000 Einwohner. Im Vergleich dazu waren es im gesamten Land 27 Fälle pro 100.000 Einwohner.

Griechenland habe insgesamt eine der niedrigsten Raten von Todesfällen in der Covid-19-Krise: Ende Mai waren es 1,6 Todesfälle pro 100.000 Einwohner. Damit belege man den 27. Platz von 31 Ländern im Europäischen Wirtschaftsraum. Sypsa lobt auch die täglichen Briefings durch den Chef-Epidemiologen Sotiris Tsiodras, der das Vertrauen der Öffentlichkeit gewonnen habe.

Nur wenig Leute mit Antikörpern

In naher Zukunft sieht Sypsa zwei Risiken: den Import von Fällen und die Nichtidentifizierung von Fallclustern. Die Wissenschaftlerin weist darauf hin, dass selbst in Ländern mit einer hohen COVID-19-Infektionsrate während der ersten Welle nur wenige Leute Antikörper gebildet haben (etwa fünf Prozent in Spanien, 4,4 Prozent in Frankreich). In Griechenland seien schätzungsweise weniger als ein Prozent der Bevölkerung infiziert gewesen. Tourismus und die Lockerung von Reisebeschränkungen könnten nun aber eine Bedrohung für alle Länder darstellen, so Sypsa.

Die Professorin für Intensivmedizin an der Universität Athen, Anastasia Kotanidou, erklärt, dass der Reproduktionsfaktor – also die Anzahl der Personen die durchschnittlich von einer Person angesteckt werden – in Griechenland derzeit unter 0,4 liegt. Auch auf die Intensivstationen kämen keine neue Covid-19-Patienten. "Wir sind zuversichtlich für die kommenden Wochen, da der Sommer gekommen ist und die Menschen mehr Zeit im Freien verbringen werden", sagt sie zum STANDARD.

"Blitzschnelle Reaktion"

Auch Kotanidou sagt, dass die "blitzschnelle Reaktion" der griechischen Behörden, auch die Schließung der Schulen zum Erfolg geführt habe. Tatsächlich wurden in Griechenland früher als in anderen europäischen Staaten, noch bevor es überhaupt Covid-19-Fälle gab, Maßnahmen ergriffen und die Kapazität der Intensivstation im ganzen Land praktisch verdoppelt. Entscheidend wäre aber gewesen, dass die Bevölkerung "die Anweisungen des wissenschaftlichen Ausschusses vollständig befolgte". Die Regierung überließ alle Empfehlungen der Wissenschaft.

Ein Komitee von 27 Wissenschaftlern traf sich täglich. "Die Technologie hat uns sehr dabei geholfen, unsere Arbeitsroutine zu vereinfachen und die Kommunikation und den Informationsfluss von Kollegen auf der ganzen Welt zu ermöglichen. Vor zehn Jahren wäre es sehr schwierig gewesen, mit einer solchen Situation umzugehen", sagt Kotanidou.

Schockbilder aus Italien

Als Bilder von Krankenhäusern in Italien in den Medien verbreitet wurden und einige Unsicherheiten in Bezug auf Covid-19 bestanden, seien alle schockiert gewesen. Doch in den ersten Tagen des plötzlichen Anstiegs neuer Fälle in Griechenland sei vor allem die Art und Weise, wie Krankenschwestern und Ärzte sich bedingungslos zur Verfügung stellten, um Patienten zu helfen, beeindruckend gewesen. "Bedenken hinsichtlich ihrer eigenen Gesundheit behinderten ihre Bemühungen nicht, und dies ist etwas, an das man sich erinnern und das man hervorheben sollte", so Kotanidou.

Ärzte und Krankenschwestern hätten auf Intensivstationen persönliche Opfer gebracht und jeden Tag unermüdlich um die Mitmenschen gekämpft. Die Zusammenarbeit der Bevölkerung sei so phantastisch gewesen, dass sie gar keine Worte dafür finde. "Eines der schönen Dinge, die in Griechenland in der Covid-19-Krise passiert sind, ist, dass zum ersten Mal nach einer längeren Zeit die Solidarität in der Gesellschaft aufblühte. Es hat mich sehr beeindruckt, dass die meisten Menschen sich gegenseitig helfen und unterstützen wollten", erzählt sie.

Gute Kommunikationsarbeit

Viel Anerkennung zollt sie auch den Politikern für ihre Kommunikationsarbeit. "Abgesehen von der Solidarität, die in der griechischen Gesellschaft aufblühte, war ein weiterer Nebeneffekt die Tatsache, dass die Gesellschaft und die Politik den Wissenschaftern das Wort erteilt haben – ich hoffe, dass dies beibehalten wird, wenn die Normalität zurückkehrt", fügt sie hinzu.

Die Menschen müssten nun daran erinnert werden, dass sie vorsichtig sein und die Abstandsregeln respektieren müssen, indem sie Menschenansammlungen vermeiden. "Wenn die aktuellen Maßnahmen maximal eingehalten werden, sollten wir in der Lage sein, die weitere Ausbreitung des Virus zu kontrollieren", sagt Kotanidou. Auf eine zweite Welle sei man diesmal jedenfalls noch besser vorbereitet. (Adelheid Wölfl, 2.6.2020)