Im Gastkommentar erklärt der Politikwissenschafter Günther Pallaver, dass Österreich in der Corona-Krise Südtirol den Spiegel vorgehalten hat.

Beste Freunde Sebastian Kurz und Arno Kompatscher bei einem Arbeitsbesuch 2018. Mittlerweile hat sich die Stimmung zwischen Österreich und Südtirol etwas getrübt.
Foto: APA/Georg Hochmuth

So schnell kann die Stimmung kippen. Anfang Mai konnte man bei einer Straßenüberführung lesen: "Kurz, hol uns heim", eine Anspielung auf "Heim ins Reich", Mitte Mai verstand dann Südtirols Landesrat für Fremdenverkehr "die Welt und somit auch Bundeskanzler Kurz nicht mehr". Andere behaupteten gar, Österreich habe seine Schutzfunktion gegenüber Südtirol aufgegeben, die auf dem Pariser Vertrag von 1946 beruht, der Grundlage der Südtirol-Autonomie und des Minderheitenschutzes.

Dämpfer des Kanzlers

Hinter den teils heftigen Tiraden steckt die Verärgerung, weil Sebastian Kurz wegen der epidemiologischen Zahlen derzeit "keine Perspektive" für eine Grenzöffnung zu Italien sieht. Hingegen macht Italien seine Grenzen für alle EU-Mitgliedsländer und die Schweiz am 3. Juni auf. Das hatte in Südtirol vor allem unter den Touristikern für eine euphorische Stimmung gesorgt, die auf bundesdeutsche Gäste warten.

Und dann der Dämpfer des Kanzlers. Das hat Südtirols Selbstverständnis, wozu auch eine Prise Hybris gehört, gleich dreifach verletzt. Erstens zählt sich Südtirol immer zu den Besten, auch bei der Covid-19-Bekämpfung, um dann von Österreich zu hören, dass alles, was südlich des Brenners liegt, noch zu gefährlich sei. Der Ruf, Südtirol sei nicht Italien, fiel ins Leere, denn Südtirol ist zwar autonom, aber innerhalb des italienischen Staatsverbandes.

Eine "Herzensangelegenheit"

Damit kommen wir zur Brennergrenze, die für etliche noch immer ein emotional stark aufgeladenes Symbol der Trennung ist. Aber seit 1998 sind die Grenzbalken am Brenner beseitigt, wurde dank Europa die Schengen-Ära auch zwischen Rom und Wien eingeleitet. Wenn seit damals die Grenze wieder geschlossen wurde, dann nicht auf Initiative Italiens, sondern Österreichs. Das war 2017 der Fall, als Österreich drohte, Panzerfahrzeuge auf den Brenner auffahren und einen Grenzzaun hochziehen zu lassen, um den aus Italien kommenden Flüchtlingen den Weg nach Norden abzusperren. Und jetzt wegen der Corona-Pandemie. Dass nicht Italien, sondern Österreich die Grenze zu Südtirol schließt, ist für viele ein Paradoxon.

Dann kommt die größte Kränkung. Wenn Südtirol irgendein Problem mit Rom hat, ruft es Österreich an. Und Österreich interveniert. Denn Südtirol ist für alle österreichischen Parteien eine "Herzensangelegenheit". In der Regel geht es zu wie bei einem Wunschkonzert: Südtirol wünscht, Österreich spielt. Und plötzlich sagt Österreich Nein zur Grenzöffnung. Das hat Südtirol tief getroffen, weil damit eine scheinbar konsolidierte Usance gebrochen wurde, von Wien in allen Angelegenheiten unterstützt zu werden. Das schmerzt vor allem die Südtiroler Volkspartei, die Kurz als ihren großen Freund betrachtet.

Spiegel vorgehalten

Österreich hat Südtirol – ungewollt – den Spiegel vorgehalten. Wir sind nicht immer die Besten. Hätte Innsbruck nicht Covid-19-Patienten aus Bozen übernommen, wäre das Südtiroler Sanitätswesen kollabiert. Die Schließung der Brennergrenze wird stark als regionale Grenzschließung zu Tirol wahrgenommen. Die Grenzen zwischen den Regionen waren aber auch in Italien geschlossen. Gern wird auch vergessen, dass Österreich den Südtirolern bei der Grenzüberschreitung sehr wohl entgegengekommen ist: Arbeitspendler, Studierende, Lebenspartnerinnen und Lebenspartner sowie Verwandte können ohne Pflicht zur Quarantäne über den Brenner fahren.

Der Aufschrei wegen der verspäteten Grenzöffnung durch Österreich war nach einem Tag schon wieder Geschichte. Ab 3. Juni können die deutschen Gäste nach Südtirol (und Italien) reisen, auch wenn sie durch Tirol fahren müssen. Schließlich wurde Südtirol belehrt, dass es gegenüber Österreich nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten – gesundheitliche Rücksicht etwa – hat. Österreich ist nicht angehalten, den Fremdenverkehr in Südtirol wieder hochzufahren, schon gar nicht, wenn gesundheitliche Vorbehalte bestehen. Das fällt nicht unter den Minderheitenschutz. Das Hemd des nationalen Interesses sitzt Österreich in dieser Situation näher als der Südtiroler Rock.

Kein offenes Wort

Ganz abgesehen davon, dass sich die Südtirolerinnen und Südtiroler vor allem dann an Österreich erinnern, wenn sie etwas benötigen, sonst aber nicht gerade eine intensive emotionale Bindung zum "Vaterland" an den Tag legen. Aus einer 2019 durchgeführten Umfrage geht hervor, dass sich nur drei Prozent der deutschsprachigen Südtirolerinnen und Südtiroler als Österreicherinnen und Österreicher fühlen, elf Prozent als Tirolerinnen und Tiroler.

Hingegen hätte Südtirol, das sich immer als europafreundliches Land par excellence präsentiert, durchaus etwas zur EU-Politik von Bundeskanzler Kurz sagen können, der sich in der Corona-Zeit eher durch "nationale Rücksichtslosigkeit" ausgezeichnet hat denn durch europafreundliches Engagement. Mit dem Bocken gegen das EU-Hilfspaket, für Kredite statt Zuschüssen schadet Österreich Europa und Italien und dadurch indirekt auch Südtirol. Nicht grundlos hat Bundespräsident Alexander Van der Bellen darauf verwiesen, dass Italien nach Deutschland der zweitgrößte Handelspartner Österreichs sei und nicht irgendwo am Mond liege. Unter Freunden wäre ein offenes Wort angebracht gewesen. Aber dazu schweigt Südtirol. (Günther Pallaver, 1.6.2020)