Ungarns Premier Viktor Orbán.

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Das griechische Wort Trauma bedeutet "eine starke seelische Erschütterung, die einen Komplex bewirken kann". Am Donnerstag um 16.30 Uhr wird der Verkehr in Budapest für eine Minute unterbrochen, um des hundertsten Jahrestags eines solchen "seelischen Schocks" zu gedenken: der Unterzeichnung des Vertrags im Lustschloss Trianon im Park von Versailles – der Todesurkunde des tausendjährigen Stephansreichs. Mit dem Untergang der k. u. k. Monarchie verlor das nunmehr selbstständige "Königreich Ungarn" rund zwei Drittel seiner Bevölkerung und seines Gebiets. Mehr als drei Millionen Ungarn lebten fortan unter fremder Oberhoheit, obwohl die Hälfte von ihnen an den Grenzen der drei Nachfolgestaaten (Tschechien, Rumänien, Slowakei) ihre geschlossenen Siedlungsgebiete behielten. Fast jede ungarische Familie war vom Trianon-Diktat betroffen.

Beschäftigung mit den Folgen, nicht den Ursachen

Der aus Siebenbürgen stammende linke Denker Gáspár Miklós Tamás wies in einem glänzenden Aufsatz in der Budapester literarischen Wochenzeitung "Élet és Irodalom" darauf hin, dass sich die "gigantische" Fachliteratur über die nationale Problematik fast immer nur mit den Folgen, aber nicht mit den Ursachen von Trianon beschäftige. Der 4. Juni gilt in Ungarn seit 2010 als Tag der nationalen Trauer, in Rumänien seit kurzem als Feiertag der Freude. Ein Zeichen der geradezu lächerlichen Heuchelei, so Tamás.

Dass Ungarn bis zuletzt auf der Seite Hitlerdeutschlands blieb, hing auch damit zusammen, dass die Achsenmächte 1938 bis 1941 rund die Hälfte der durch Trianon verlorenen Gebiete mit fünf Millionen Einwohnern (allerdings waren nur die Hälfte Ungarn) dem Horthy-Regime zugeteilt hatten. Die Revision wurde 1945 rückgängig gemacht. In der kommunistischen Ära war Trianon, ebenso wie der in dessen Folge virulent gewordene Antisemitismus, öffentlich ein Tabuthema. Nach der Wende haben die linken und liberalen Parteien die brisante nationale Frage unter den Teppich gekehrt.

Kein Infragestellen der Grenzen

Viktor Orbán verdankte seinen ersten Wahlsieg vor zehn Jahren zum Teil der nationalen Karte, die er auch bis heute bei den Streitigkeiten mit der EU immer wieder ausspielt. Zwar lobte er Horthy mal als "außergewöhnlichen Staatsmann", doch vermied er es bisher, die Grenzen infrage zu stellen. Allerdings verbreiten die von ihm großzügig dotierten pseudowissenschaftlichen Institute und Publikationen die nationalistischen und antisemitischen "Dolchstoßlegenden" über Trianon.

Besonders bedenklich ist dieser Tage eine nationalistische Entgleisung des rumänischen Staatspräsidenten Klaus Johannis, der grundlos die 1,2 Millionen starke ungarische Minderheit und die rumänischen Sozialdemokraten bezichtigt hatte, sie verhandelten insgeheim mit Orbán über die Abtrennung Siebenbürgens. Der rumäniendeutsche Johannis – ein merkwürdiger Kandidat für den angesehenen Aachener Karlspreis! – wurde wegen seiner Hetze gegen eine ethnische Minderheit von dem unabhängigen rumänischen "Nationalrat zum Kampf gegen die Diskriminierung" sogar zu einer Geldstrafe verurteilt.

Dass in zwei benachbarten EU-Staaten beiderseits Ängste von oben geschürt werden, zeigt, dass die Wunden von und seit Trianon auch nach hundert Jahren nicht geheilt sind. (Paul Lendvai, 2.6.2020)